Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Die patriotische Pflicht der Parteinahme. In kleinerem Maßstabe konnte der Staat eher als Kunstwerkausgebildet werden, und derselbe Grundtypus wiederholte sich in unendlicher Mannigfaltigkeit des Rechts, der Sitte, des Cultus, der Münze und Jahresrechnung; selbst die Götter waren städtisch. In den Versuchen einer Reichsbildung hatten sie wenig Erfolg; auch der römische Staat ging an der un¬ geschickten Ausdehnung einer städtischen Verfassung auf ein ganzes Land zu Grunde. Wo sich nun in der neueren Zeit städtische Parteikämpfe finden, wie in Deutschland, Italien und den Niederlanden, da zeigen sie die größte Aehnlichkeit mit dem Alterthume; da finden wir denselben Hader zwischen Adel Bürgern, zwischen Voll- und Halbbürgern, zwischen amtsfähi¬ gen und ausgeschlossenen Ständen. Ganz anders aber in den Großstaaten mit ihren ungleich verwickelteren Lebensverhält¬ nissen und ihren Menschenmassen. Diese kommen viel schwerer, als einzelne Bürgerschaften, in Bewegung. Ist sie aber ein¬ getreten, so ist eine Leitung derselben, eine Beschränkung auf bestimmte Ziele und eine vernünftige Mäßigung unendlich schwieriger. Es ist nicht der Bürger, sondern der Mensch, welcher in seinem tiefsten Wesen aufgeregt wird. Allgemeine Begriffe mit vieldeutigen Schlagwörtern, wie sie das Alter¬ thum nicht kannte, abstracte Ideen socialen und politischen In¬ halts fanatisiren das Volk mit ihrer dämonischen Gewalt und die verwilderte Masse ergeht sich in Gräueln einer Revolution, die bei den Alten in solcher Maßlosigkeit nicht vorkommen konnte. Andererseits liegt es in der Natur der Großstaaten, daß sie viel seltener als städtische Republiken in allgemeine Aufregung gerathen; die Bewegungen vertheilen, die Gegen¬ sätze beruhigen sich leichter; die Gesichtskreise sind weiter, die Interessen mannigfaltiger; eine Parteirichtung kreuzt und lähmt die andere. Auch ist mit dem Fortschritte moderner Cultur die freie Bewegung des Einzelnen, die Anerkennung berechtigter Meinungsverschiedenheit und eine vernünftige Toleranz noth¬ wendig in stetiger Zunahme. Endlich ist es ein entschiedener Vorzug der neuen Zeit, daß sie Einrichtungen besitzt, welche die Parteibewegung mäßigen und ordnen. In unsern Ver¬ Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. In kleinerem Maßſtabe konnte der Staat eher als Kunſtwerkausgebildet werden, und derſelbe Grundtypus wiederholte ſich in unendlicher Mannigfaltigkeit des Rechts, der Sitte, des Cultus, der Münze und Jahresrechnung; ſelbſt die Götter waren ſtädtiſch. In den Verſuchen einer Reichsbildung hatten ſie wenig Erfolg; auch der römiſche Staat ging an der un¬ geſchickten Ausdehnung einer ſtädtiſchen Verfaſſung auf ein ganzes Land zu Grunde. Wo ſich nun in der neueren Zeit ſtädtiſche Parteikämpfe finden, wie in Deutſchland, Italien und den Niederlanden, da zeigen ſie die größte Aehnlichkeit mit dem Alterthume; da finden wir denſelben Hader zwiſchen Adel Bürgern, zwiſchen Voll- und Halbbürgern, zwiſchen amtsfähi¬ gen und ausgeſchloſſenen Ständen. Ganz anders aber in den Großſtaaten mit ihren ungleich verwickelteren Lebensverhält¬ niſſen und ihren Menſchenmaſſen. Dieſe kommen viel ſchwerer, als einzelne Bürgerſchaften, in Bewegung. Iſt ſie aber ein¬ getreten, ſo iſt eine Leitung derſelben, eine Beſchränkung auf beſtimmte Ziele und eine vernünftige Mäßigung unendlich ſchwieriger. Es iſt nicht der Bürger, ſondern der Menſch, welcher in ſeinem tiefſten Weſen aufgeregt wird. Allgemeine Begriffe mit vieldeutigen Schlagwörtern, wie ſie das Alter¬ thum nicht kannte, abſtracte Ideen ſocialen und politiſchen In¬ halts fanatiſiren das Volk mit ihrer dämoniſchen Gewalt und die verwilderte Maſſe ergeht ſich in Gräueln einer Revolution, die bei den Alten in ſolcher Maßloſigkeit nicht vorkommen konnte. Andererſeits liegt es in der Natur der Großſtaaten, daß ſie viel ſeltener als ſtädtiſche Republiken in allgemeine Aufregung gerathen; die Bewegungen vertheilen, die Gegen¬ ſätze beruhigen ſich leichter; die Geſichtskreiſe ſind weiter, die Intereſſen mannigfaltiger; eine Parteirichtung kreuzt und lähmt die andere. Auch iſt mit dem Fortſchritte moderner Cultur die freie Bewegung des Einzelnen, die Anerkennung berechtigter Meinungsverſchiedenheit und eine vernünftige Toleranz noth¬ wendig in ſtetiger Zunahme. Endlich iſt es ein entſchiedener Vorzug der neuen Zeit, daß ſie Einrichtungen beſitzt, welche die Parteibewegung mäßigen und ordnen. 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Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.
In kleinerem Maßſtabe konnte der Staat eher als Kunſtwerk
ausgebildet werden, und derſelbe Grundtypus wiederholte ſich
in unendlicher Mannigfaltigkeit des Rechts, der Sitte, des
Cultus, der Münze und Jahresrechnung; ſelbſt die Götter
waren ſtädtiſch. In den Verſuchen einer Reichsbildung hatten
ſie wenig Erfolg; auch der römiſche Staat ging an der un¬
geſchickten Ausdehnung einer ſtädtiſchen Verfaſſung auf ein
ganzes Land zu Grunde. Wo ſich nun in der neueren Zeit
ſtädtiſche Parteikämpfe finden, wie in Deutſchland, Italien und
den Niederlanden, da zeigen ſie die größte Aehnlichkeit mit
dem Alterthume; da finden wir denſelben Hader zwiſchen Adel
Bürgern, zwiſchen Voll- und Halbbürgern, zwiſchen amtsfähi¬
gen und ausgeſchloſſenen Ständen. Ganz anders aber in den
Großſtaaten mit ihren ungleich verwickelteren Lebensverhält¬
niſſen und ihren Menſchenmaſſen. Dieſe kommen viel ſchwerer,
als einzelne Bürgerſchaften, in Bewegung. Iſt ſie aber ein¬
getreten, ſo iſt eine Leitung derſelben, eine Beſchränkung auf
beſtimmte Ziele und eine vernünftige Mäßigung unendlich
ſchwieriger. Es iſt nicht der Bürger, ſondern der Menſch,
welcher in ſeinem tiefſten Weſen aufgeregt wird. Allgemeine
Begriffe mit vieldeutigen Schlagwörtern, wie ſie das Alter¬
thum nicht kannte, abſtracte Ideen ſocialen und politiſchen In¬
halts fanatiſiren das Volk mit ihrer dämoniſchen Gewalt und
die verwilderte Maſſe ergeht ſich in Gräueln einer Revolution,
die bei den Alten in ſolcher Maßloſigkeit nicht vorkommen
konnte. Andererſeits liegt es in der Natur der Großſtaaten,
daß ſie viel ſeltener als ſtädtiſche Republiken in allgemeine
Aufregung gerathen; die Bewegungen vertheilen, die Gegen¬
ſätze beruhigen ſich leichter; die Geſichtskreiſe ſind weiter, die
Intereſſen mannigfaltiger; eine Parteirichtung kreuzt und lähmt
die andere. Auch iſt mit dem Fortſchritte moderner Cultur
die freie Bewegung des Einzelnen, die Anerkennung berechtigter
Meinungsverſchiedenheit und eine vernünftige Toleranz noth¬
wendig in ſtetiger Zunahme. Endlich iſt es ein entſchiedener
Vorzug der neuen Zeit, daß ſie Einrichtungen beſitzt, welche
die Parteibewegung mäßigen und ordnen. In unſern Ver¬
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