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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die patriotische Pflicht der Parteinahme.
fassungsstaaten wird die Leitung des Ganzen durch feste Par¬
teien wesentlich erleichtert. Ihre Bewegung gleicht der des
Pendels, welcher den Gang eines Uhrwerks regelt, oder dem
Pulsschlage, an welchem man den innern Zustand eines Volks
prüfen und erkennen kann.

Groß- und Kleinstaaten sind aber nicht immer nach Zeiten
und Ländern geschieden; sie bestehen auch neben einander in
demselben Volke, so daß sich die Sphären der einen und der
anderen kreuzen. Dadurch treten unvermeidliche Conflikte
ein, und die Berechtigung des Theils dem Ganzen und des
Kleinen dem Großen gegenüber wird zu einer Parteifrage,
von deren endgültiger Entscheidung das Schicksal ganzer Na¬
tionen abhängt.

Diese Frage zieht sich durch die ganze Geschichte der
Hellenen hindurch; ihre praktische Lösung haben nur die Athener
versucht und ihre unvergeßliche Heldenzeit beruht darauf, daß
nach Mißlingen aller föderativen Einrichtungen der eine kleine
Staat für sich allein die Aufgabe übernahm, welche der Ge¬
samtheit oblag. Athen wehrte mit ungeheuren Opfern die
Fremdherrschaft ab, hielt allein eine schlagfertige Macht, um
das Meer frei zu erhalten; Athen allein nahm gastfreundlich
alle Volksgenossen bei sich auf, suchte in gemeinsamen Grün¬
dungen die Stämme zu verschmelzen und Alles, was dem
Namen der Hellenen Ehre machte, zur Blüthe zu bringen.
Der Dank, den es erntete, war Scheelsucht und Mißgunst,
giftiger Haß gegen die, welche sich anmaßten, etwas Besseres
sein zu wollen; die Bruderstämme hatten keine andere Antwort
als die, welche die Söhne Jakob's ihrem Bruder Joseph gaben:
Wie, sollen wir kommen uns vor dir zu neigen? -- und an
diesem Josephshasse ist das ganze Volk in blutigen Kämpfen
politisch und sittlich zu Grunde gegangen.

Die Hellenen haben über ihr Stadtbürgerthum ihren besten
Schatz, die Vaterlandsliebe, eingebüßt, und ähnliche Gefahren
drohen überall, wo das Gesamtvaterland nicht das unmittel¬
bare Vaterland ist. Freilich wäre es Thorheit, darum jede
Bildung von Sonderstaaten in einem großen Volksganzen als

Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.
faſſungsſtaaten wird die Leitung des Ganzen durch feſte Par¬
teien weſentlich erleichtert. Ihre Bewegung gleicht der des
Pendels, welcher den Gang eines Uhrwerks regelt, oder dem
Pulsſchlage, an welchem man den innern Zuſtand eines Volks
prüfen und erkennen kann.

Groß- und Kleinſtaaten ſind aber nicht immer nach Zeiten
und Ländern geſchieden; ſie beſtehen auch neben einander in
demſelben Volke, ſo daß ſich die Sphären der einen und der
anderen kreuzen. Dadurch treten unvermeidliche Conflikte
ein, und die Berechtigung des Theils dem Ganzen und des
Kleinen dem Großen gegenüber wird zu einer Parteifrage,
von deren endgültiger Entſcheidung das Schickſal ganzer Na¬
tionen abhängt.

Dieſe Frage zieht ſich durch die ganze Geſchichte der
Hellenen hindurch; ihre praktiſche Löſung haben nur die Athener
verſucht und ihre unvergeßliche Heldenzeit beruht darauf, daß
nach Mißlingen aller föderativen Einrichtungen der eine kleine
Staat für ſich allein die Aufgabe übernahm, welche der Ge¬
ſamtheit oblag. Athen wehrte mit ungeheuren Opfern die
Fremdherrſchaft ab, hielt allein eine ſchlagfertige Macht, um
das Meer frei zu erhalten; Athen allein nahm gaſtfreundlich
alle Volksgenoſſen bei ſich auf, ſuchte in gemeinſamen Grün¬
dungen die Stämme zu verſchmelzen und Alles, was dem
Namen der Hellenen Ehre machte, zur Blüthe zu bringen.
Der Dank, den es erntete, war Scheelſucht und Mißgunſt,
giftiger Haß gegen die, welche ſich anmaßten, etwas Beſſeres
ſein zu wollen; die Bruderſtämme hatten keine andere Antwort
als die, welche die Söhne Jakob's ihrem Bruder Joſeph gaben:
Wie, ſollen wir kommen uns vor dir zu neigen? — und an
dieſem Joſephshaſſe iſt das ganze Volk in blutigen Kämpfen
politiſch und ſittlich zu Grunde gegangen.

Die Hellenen haben über ihr Stadtbürgerthum ihren beſten
Schatz, die Vaterlandsliebe, eingebüßt, und ähnliche Gefahren
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bare Vaterland iſt. Freilich wäre es Thorheit, darum jede
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[331/0347] Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. faſſungsſtaaten wird die Leitung des Ganzen durch feſte Par¬ teien weſentlich erleichtert. Ihre Bewegung gleicht der des Pendels, welcher den Gang eines Uhrwerks regelt, oder dem Pulsſchlage, an welchem man den innern Zuſtand eines Volks prüfen und erkennen kann. Groß- und Kleinſtaaten ſind aber nicht immer nach Zeiten und Ländern geſchieden; ſie beſtehen auch neben einander in demſelben Volke, ſo daß ſich die Sphären der einen und der anderen kreuzen. Dadurch treten unvermeidliche Conflikte ein, und die Berechtigung des Theils dem Ganzen und des Kleinen dem Großen gegenüber wird zu einer Parteifrage, von deren endgültiger Entſcheidung das Schickſal ganzer Na¬ tionen abhängt. Dieſe Frage zieht ſich durch die ganze Geſchichte der Hellenen hindurch; ihre praktiſche Löſung haben nur die Athener verſucht und ihre unvergeßliche Heldenzeit beruht darauf, daß nach Mißlingen aller föderativen Einrichtungen der eine kleine Staat für ſich allein die Aufgabe übernahm, welche der Ge¬ ſamtheit oblag. Athen wehrte mit ungeheuren Opfern die Fremdherrſchaft ab, hielt allein eine ſchlagfertige Macht, um das Meer frei zu erhalten; Athen allein nahm gaſtfreundlich alle Volksgenoſſen bei ſich auf, ſuchte in gemeinſamen Grün¬ dungen die Stämme zu verſchmelzen und Alles, was dem Namen der Hellenen Ehre machte, zur Blüthe zu bringen. Der Dank, den es erntete, war Scheelſucht und Mißgunſt, giftiger Haß gegen die, welche ſich anmaßten, etwas Beſſeres ſein zu wollen; die Bruderſtämme hatten keine andere Antwort als die, welche die Söhne Jakob's ihrem Bruder Joſeph gaben: Wie, ſollen wir kommen uns vor dir zu neigen? — und an dieſem Joſephshaſſe iſt das ganze Volk in blutigen Kämpfen politiſch und ſittlich zu Grunde gegangen. Die Hellenen haben über ihr Stadtbürgerthum ihren beſten Schatz, die Vaterlandsliebe, eingebüßt, und ähnliche Gefahren drohen überall, wo das Geſamtvaterland nicht das unmittel¬ bare Vaterland iſt. Freilich wäre es Thorheit, darum jede Bildung von Sonderſtaaten in einem großen Volksganzen als

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/347>, abgerufen am 23.11.2024.