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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das Mittleramt der Philologie.

Nun verband sich mit der Tiefe der Forschung von Neuem
die Weite der Umsicht. Denn wie es dem Wanderer geht,
welcher in der Morgendämmerung ein Gebirgsland überblickt:
erst sieht er nur vereinzelte Spitzen, welche in das Sonnen¬
licht hervorragen wie Inseln im Meere; aber wie die Sonne
steigt, so treten allmählich die Bergjoche hervor, dann auch
die tieferen Thäler mit den Schluchten und Wegen, welche die
Gipfelhöhen unter einander verbinden, und endlich liegt die
Gegend in großem Zusammenhange dem Auge unverschleiert
vor: so ist es auch mit dem Alterthume gegangen. Denn es
ist nicht lange her, seit Rom und Athen auf einsamen Höhen
lagen, wie unvermittelte Wundererscheinungen, während jetzt
immer deutlicher ein großer Zusammenhang zu Tage tritt;
eine allgemeine Geschichte der alten Welt, von welcher man
vor Kurzem noch keine Ahnung hatte.

Ein solcher Fortschritt war nicht anders möglich, als
durch Auffindung neuer Erkenntnißmittel, welche der Geschichts¬
kunde eben so wesentliche Dienste leisten, wie der Naturwissen¬
schaft die Erfindung neuer Instrumente. Namentlich sind die
Sprache und die Denkmäler als neugewonnene Geschichts¬
quellen zu betrachten. Denn seit man in der Sprache einen
natürlichen Organismus erkannt hat, ist sie nicht nur des ein¬
zelnen Volkes älteste Urkunde, sondern weit über seine Geschichte
hinaus reicht nun die urkundliche Kenntniß; der Stammbaum
der Völker kann mit immer größerer Vollständigkeit und
Sicherheit wieder hergestellt werden und durch die vergleichende
Sprachwissenschaft ist nicht nur in den großen Zusammenhang
der Menschengeschlechter ein neuer Blick eröffnet, sondern auch
in die natürliche Beschaffenheit und die Eigenthümlichkeit der
einzelnen Völker.

Die andere Erkenntnißquelle finde ich in den Denkmälern
des Alterthums. Nur der Stumpfsinn kann es einen Zufall
nennen, daß erst die Schätze der alten Litteratur wieder auf¬
gefunden sind und dann, als diese zum großen Theil verar¬
beitet waren, die Masse der Denkmäler mit dem Boden, welchem
sie angehören. Der tiefer Schauende muß darin eine Vorsehung

Curtius, Alterthum. 2
Das Mittleramt der Philologie.

Nun verband ſich mit der Tiefe der Forſchung von Neuem
die Weite der Umſicht. Denn wie es dem Wanderer geht,
welcher in der Morgendämmerung ein Gebirgsland überblickt:
erſt ſieht er nur vereinzelte Spitzen, welche in das Sonnen¬
licht hervorragen wie Inſeln im Meere; aber wie die Sonne
ſteigt, ſo treten allmählich die Bergjoche hervor, dann auch
die tieferen Thäler mit den Schluchten und Wegen, welche die
Gipfelhöhen unter einander verbinden, und endlich liegt die
Gegend in großem Zuſammenhange dem Auge unverſchleiert
vor: ſo iſt es auch mit dem Alterthume gegangen. Denn es
iſt nicht lange her, ſeit Rom und Athen auf einſamen Höhen
lagen, wie unvermittelte Wundererſcheinungen, während jetzt
immer deutlicher ein großer Zuſammenhang zu Tage tritt;
eine allgemeine Geſchichte der alten Welt, von welcher man
vor Kurzem noch keine Ahnung hatte.

Ein ſolcher Fortſchritt war nicht anders möglich, als
durch Auffindung neuer Erkenntnißmittel, welche der Geſchichts¬
kunde eben ſo weſentliche Dienſte leiſten, wie der Naturwiſſen¬
ſchaft die Erfindung neuer Inſtrumente. Namentlich ſind die
Sprache und die Denkmäler als neugewonnene Geſchichts¬
quellen zu betrachten. Denn ſeit man in der Sprache einen
natürlichen Organismus erkannt hat, iſt ſie nicht nur des ein¬
zelnen Volkes älteſte Urkunde, ſondern weit über ſeine Geſchichte
hinaus reicht nun die urkundliche Kenntniß; der Stammbaum
der Völker kann mit immer größerer Vollſtändigkeit und
Sicherheit wieder hergeſtellt werden und durch die vergleichende
Sprachwiſſenſchaft iſt nicht nur in den großen Zuſammenhang
der Menſchengeſchlechter ein neuer Blick eröffnet, ſondern auch
in die natürliche Beſchaffenheit und die Eigenthümlichkeit der
einzelnen Völker.

Die andere Erkenntnißquelle finde ich in den Denkmälern
des Alterthums. Nur der Stumpfſinn kann es einen Zufall
nennen, daß erſt die Schätze der alten Litteratur wieder auf¬
gefunden ſind und dann, als dieſe zum großen Theil verar¬
beitet waren, die Maſſe der Denkmäler mit dem Boden, welchem
ſie angehören. Der tiefer Schauende muß darin eine Vorſehung

Curtius, Alterthum. 2
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[17/0033] Das Mittleramt der Philologie. Nun verband ſich mit der Tiefe der Forſchung von Neuem die Weite der Umſicht. Denn wie es dem Wanderer geht, welcher in der Morgendämmerung ein Gebirgsland überblickt: erſt ſieht er nur vereinzelte Spitzen, welche in das Sonnen¬ licht hervorragen wie Inſeln im Meere; aber wie die Sonne ſteigt, ſo treten allmählich die Bergjoche hervor, dann auch die tieferen Thäler mit den Schluchten und Wegen, welche die Gipfelhöhen unter einander verbinden, und endlich liegt die Gegend in großem Zuſammenhange dem Auge unverſchleiert vor: ſo iſt es auch mit dem Alterthume gegangen. Denn es iſt nicht lange her, ſeit Rom und Athen auf einſamen Höhen lagen, wie unvermittelte Wundererſcheinungen, während jetzt immer deutlicher ein großer Zuſammenhang zu Tage tritt; eine allgemeine Geſchichte der alten Welt, von welcher man vor Kurzem noch keine Ahnung hatte. Ein ſolcher Fortſchritt war nicht anders möglich, als durch Auffindung neuer Erkenntnißmittel, welche der Geſchichts¬ kunde eben ſo weſentliche Dienſte leiſten, wie der Naturwiſſen¬ ſchaft die Erfindung neuer Inſtrumente. Namentlich ſind die Sprache und die Denkmäler als neugewonnene Geſchichts¬ quellen zu betrachten. Denn ſeit man in der Sprache einen natürlichen Organismus erkannt hat, iſt ſie nicht nur des ein¬ zelnen Volkes älteſte Urkunde, ſondern weit über ſeine Geſchichte hinaus reicht nun die urkundliche Kenntniß; der Stammbaum der Völker kann mit immer größerer Vollſtändigkeit und Sicherheit wieder hergeſtellt werden und durch die vergleichende Sprachwiſſenſchaft iſt nicht nur in den großen Zuſammenhang der Menſchengeſchlechter ein neuer Blick eröffnet, ſondern auch in die natürliche Beſchaffenheit und die Eigenthümlichkeit der einzelnen Völker. Die andere Erkenntnißquelle finde ich in den Denkmälern des Alterthums. Nur der Stumpfſinn kann es einen Zufall nennen, daß erſt die Schätze der alten Litteratur wieder auf¬ gefunden ſind und dann, als dieſe zum großen Theil verar¬ beitet waren, die Maſſe der Denkmäler mit dem Boden, welchem ſie angehören. Der tiefer Schauende muß darin eine Vorſehung Curtius, Alterthum. 2

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/33>, abgerufen am 27.11.2024.