Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. punkte eines Inselreichs, und wenn er sich auch nachträglichdurch allgemeines Stimmrecht die ertrotzte Gewalt bestätigen ließ, so war er doch ein Gewaltherr und das Schicksal seines Hauses war das eines Tyrannenhauses. In dem unter einer lahmen und unwürdigen Familienherrschaft stehenden Rom er¬ kannten die Gracchen die Nothwendigkeit einer neuen Staats¬ leitung, eines persönlichen Regiments, wenn Rom seinem Welt¬ berufe genügen sollte, aber sie brachten es nur zur Revolution und ihre Gedanken konnten am Ende nur aus den Trümmern der ganzen zu Recht bestehenden Verfassung ausgeführt wer¬ den. Auch in Freistaaten neuerer Zeit ist die Verfassung that¬ sächlich aufgehoben worden, wenn dieselben in politische Be¬ ziehungen von größerem Umfange eintraten, wie z. B. in Florenz, als die Mediceer mit erblicher Macht an der Spitze des Gemeinwesens standen. In allen Fällen dieser Art, wo aus praktischen Gründen die Staatsordnung als untauglich beseitigt wird, finden wir, daß mehr oder minder schroff das Recht gebrochen wird und daß unberechtigte Gewalten, wie die des Geldes, des soldatischen Anhangs und der durch schlechte Mittel erworbenen Volksgunst, den Staat an sich reißen. Nur eine Macht giebt es, welche in allen Zeiten die wahr¬ haft berechtigte ist, das ist die Macht des Geistes, die Macht hervorragender Einsicht und Tugend. In dem Maße, wie diese zur Geltung kommt, ist jede Verfassung eine normale und gute, wie der Seelenzustand des Einzelnen ein wohlge¬ ordneter ist, wenn die zur Herrschaft berufenen Seelenkräfte die niederen Triebe leiten; in dieser Beziehung giebt es also in der That nur eine einzige richtige Verfassung, die wahre Aristokratie. Und darin bestand nun das unvergleichliche Glück Athens, daß ihm in der Zeit seiner schwierigsten Aufgaben eine solche Verfassung zu Theil wurde, und zwar ohne Ge¬ waltsamkeit, ohne sogenannte "rettende Thaten" und ohne Rechtsbruch. Wir dürfen dies wohl als etwas der griechischen Nation Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. punkte eines Inſelreichs, und wenn er ſich auch nachträglichdurch allgemeines Stimmrecht die ertrotzte Gewalt beſtätigen ließ, ſo war er doch ein Gewaltherr und das Schickſal ſeines Hauſes war das eines Tyrannenhauſes. In dem unter einer lahmen und unwürdigen Familienherrſchaft ſtehenden Rom er¬ kannten die Gracchen die Nothwendigkeit einer neuen Staats¬ leitung, eines perſönlichen Regiments, wenn Rom ſeinem Welt¬ berufe genügen ſollte, aber ſie brachten es nur zur Revolution und ihre Gedanken konnten am Ende nur aus den Trümmern der ganzen zu Recht beſtehenden Verfaſſung ausgeführt wer¬ den. Auch in Freiſtaaten neuerer Zeit iſt die Verfaſſung that¬ ſächlich aufgehoben worden, wenn dieſelben in politiſche Be¬ ziehungen von größerem Umfange eintraten, wie z. B. in Florenz, als die Mediceer mit erblicher Macht an der Spitze des Gemeinweſens ſtanden. In allen Fällen dieſer Art, wo aus praktiſchen Gründen die Staatsordnung als untauglich beſeitigt wird, finden wir, daß mehr oder minder ſchroff das Recht gebrochen wird und daß unberechtigte Gewalten, wie die des Geldes, des ſoldatiſchen Anhangs und der durch ſchlechte Mittel erworbenen Volksgunſt, den Staat an ſich reißen. Nur eine Macht giebt es, welche in allen Zeiten die wahr¬ haft berechtigte iſt, das iſt die Macht des Geiſtes, die Macht hervorragender Einſicht und Tugend. In dem Maße, wie dieſe zur Geltung kommt, iſt jede Verfaſſung eine normale und gute, wie der Seelenzuſtand des Einzelnen ein wohlge¬ ordneter iſt, wenn die zur Herrſchaft berufenen Seelenkräfte die niederen Triebe leiten; in dieſer Beziehung giebt es alſo in der That nur eine einzige richtige Verfaſſung, die wahre Ariſtokratie. Und darin beſtand nun das unvergleichliche Glück Athens, daß ihm in der Zeit ſeiner ſchwierigſten Aufgaben eine ſolche Verfaſſung zu Theil wurde, und zwar ohne Ge¬ waltſamkeit, ohne ſogenannte »rettende Thaten« und ohne Rechtsbruch. 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Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
punkte eines Inſelreichs, und wenn er ſich auch nachträglich
durch allgemeines Stimmrecht die ertrotzte Gewalt beſtätigen
ließ, ſo war er doch ein Gewaltherr und das Schickſal ſeines
Hauſes war das eines Tyrannenhauſes. In dem unter einer
lahmen und unwürdigen Familienherrſchaft ſtehenden Rom er¬
kannten die Gracchen die Nothwendigkeit einer neuen Staats¬
leitung, eines perſönlichen Regiments, wenn Rom ſeinem Welt¬
berufe genügen ſollte, aber ſie brachten es nur zur Revolution
und ihre Gedanken konnten am Ende nur aus den Trümmern
der ganzen zu Recht beſtehenden Verfaſſung ausgeführt wer¬
den. Auch in Freiſtaaten neuerer Zeit iſt die Verfaſſung that¬
ſächlich aufgehoben worden, wenn dieſelben in politiſche Be¬
ziehungen von größerem Umfange eintraten, wie z. B. in
Florenz, als die Mediceer mit erblicher Macht an der Spitze
des Gemeinweſens ſtanden. In allen Fällen dieſer Art, wo
aus praktiſchen Gründen die Staatsordnung als untauglich
beſeitigt wird, finden wir, daß mehr oder minder ſchroff das
Recht gebrochen wird und daß unberechtigte Gewalten, wie
die des Geldes, des ſoldatiſchen Anhangs und der durch
ſchlechte Mittel erworbenen Volksgunſt, den Staat an ſich reißen.
Nur eine Macht giebt es, welche in allen Zeiten die wahr¬
haft berechtigte iſt, das iſt die Macht des Geiſtes, die Macht
hervorragender Einſicht und Tugend. In dem Maße, wie
dieſe zur Geltung kommt, iſt jede Verfaſſung eine normale
und gute, wie der Seelenzuſtand des Einzelnen ein wohlge¬
ordneter iſt, wenn die zur Herrſchaft berufenen Seelenkräfte
die niederen Triebe leiten; in dieſer Beziehung giebt es alſo
in der That nur eine einzige richtige Verfaſſung, die wahre
Ariſtokratie. Und darin beſtand nun das unvergleichliche Glück
Athens, daß ihm in der Zeit ſeiner ſchwierigſten Aufgaben
eine ſolche Verfaſſung zu Theil wurde, und zwar ohne Ge¬
waltſamkeit, ohne ſogenannte »rettende Thaten« und ohne
Rechtsbruch.
Wir dürfen dies wohl als etwas der griechiſchen Nation
Eigenthümliches anſehen, daß bei ihr ſeit älteſten Zeiten geiſtige
Bildung als eine Macht im Staate angeſehen worden iſt.
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Zitationshilfe: | Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/327>, abgerufen am 22.07.2024. |