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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
überwindlich wie der Sohn des Miltiades. Aber die Lage
des Staats verlangte mehr, als eine Vereinigung der Vor¬
züge, welche die früheren Staatsmänner Athens ausgezeichnet
hatten. Athen bedurfte einer königlichen Leitung; aber ein
Königthum läßt sich nicht schaffen, wenn es untergegangen ist.
Auch der Adel konnte nicht wieder an die Spitze treten; denn
wenn es auch im Volke an alten Geschlechtern nicht fehlte,
welche noch immer durch reichen Besitz und angestammte Tüch¬
tigkeit eine politische Bedeutung sich bewahrt hatten, so hatten
sie sich doch in den Freiheitskriegen nicht bewährt; in ihren
Kreisen hatte sich mannigfache Hinneigung zum Nationalfeinde
gezeigt, die Erhaltung ihrer Standesrechte hatte ihnen höher
gegolten, als des Volks Ruhm und Ehre, und was Athen be¬
trifft, so hatte sich hier deutlich gezeigt, daß die Aristokratie
ihre Vaterstadt lieber unter Sparta gebeugt, als in freier
Verfassung aufblühen sehen wollte. Die ernste Mahnung der
Geschichte, daß alle politischen Rechte verwirkt werden, wenn
die Inhaber derselben sich in frevelhaftem Selbstdünkel der
Bewegung der Zeit entgegenstemmen, hatte sich auch hier bewährt;
der Adel hatte die Führerschaft verloren und seine Schuld
war es, daß die Demokratie die allein mögliche Verfassung war.

Aber auch sie war praktisch unmöglich. Denn wie kann
die Leitung eines ausgedehnten Reichs, das aus weitzer¬
streuten und locker verbundenen Gliedern besteht und überall
angefeindet und bedroht wird, einer Bürgermenge überlassen
werden, die auf offenem Markte tagt und in ihrer Gesammt¬
heit unfähig ist, verwickelte Staatsverhältnisse zu behandeln!

Nicht selten sind in der Geschichte solche Fälle eingetreten,
wo ein Staat plötzlich in Verhältnisse kommt, in denen die
hergebrachte Verfassung sich für den erweiterten Beruf un¬
tauglich erweist, und es fehlt dann nicht an kühnen Männern,
welche die Mängel abzustellen suchen. So erkannten in Gela
die Söhne des Deinomenes, daß das ganze Griechenthum in
Sicilien auf die Dauer nur durch eine starke Concentration,
durch die Aufrichtung einer Reichsmacht erhalten werden könne.
Gelon machte daher mit List und Gewalt Syrakus zum Mittel¬

Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
überwindlich wie der Sohn des Miltiades. Aber die Lage
des Staats verlangte mehr, als eine Vereinigung der Vor¬
züge, welche die früheren Staatsmänner Athens ausgezeichnet
hatten. Athen bedurfte einer königlichen Leitung; aber ein
Königthum läßt ſich nicht ſchaffen, wenn es untergegangen iſt.
Auch der Adel konnte nicht wieder an die Spitze treten; denn
wenn es auch im Volke an alten Geſchlechtern nicht fehlte,
welche noch immer durch reichen Beſitz und angeſtammte Tüch¬
tigkeit eine politiſche Bedeutung ſich bewahrt hatten, ſo hatten
ſie ſich doch in den Freiheitskriegen nicht bewährt; in ihren
Kreiſen hatte ſich mannigfache Hinneigung zum Nationalfeinde
gezeigt, die Erhaltung ihrer Standesrechte hatte ihnen höher
gegolten, als des Volks Ruhm und Ehre, und was Athen be¬
trifft, ſo hatte ſich hier deutlich gezeigt, daß die Ariſtokratie
ihre Vaterſtadt lieber unter Sparta gebeugt, als in freier
Verfaſſung aufblühen ſehen wollte. Die ernſte Mahnung der
Geſchichte, daß alle politiſchen Rechte verwirkt werden, wenn
die Inhaber derſelben ſich in frevelhaftem Selbſtdünkel der
Bewegung der Zeit entgegenſtemmen, hatte ſich auch hier bewährt;
der Adel hatte die Führerſchaft verloren und ſeine Schuld
war es, daß die Demokratie die allein mögliche Verfaſſung war.

Aber auch ſie war praktiſch unmöglich. Denn wie kann
die Leitung eines ausgedehnten Reichs, das aus weitzer¬
ſtreuten und locker verbundenen Gliedern beſteht und überall
angefeindet und bedroht wird, einer Bürgermenge überlaſſen
werden, die auf offenem Markte tagt und in ihrer Geſammt¬
heit unfähig iſt, verwickelte Staatsverhältniſſe zu behandeln!

Nicht ſelten ſind in der Geſchichte ſolche Fälle eingetreten,
wo ein Staat plötzlich in Verhältniſſe kommt, in denen die
hergebrachte Verfaſſung ſich für den erweiterten Beruf un¬
tauglich erweiſt, und es fehlt dann nicht an kühnen Männern,
welche die Mängel abzuſtellen ſuchen. So erkannten in Gela
die Söhne des Deinomenes, daß das ganze Griechenthum in
Sicilien auf die Dauer nur durch eine ſtarke Concentration,
durch die Aufrichtung einer Reichsmacht erhalten werden könne.
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[310/0326] Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. überwindlich wie der Sohn des Miltiades. Aber die Lage des Staats verlangte mehr, als eine Vereinigung der Vor¬ züge, welche die früheren Staatsmänner Athens ausgezeichnet hatten. Athen bedurfte einer königlichen Leitung; aber ein Königthum läßt ſich nicht ſchaffen, wenn es untergegangen iſt. Auch der Adel konnte nicht wieder an die Spitze treten; denn wenn es auch im Volke an alten Geſchlechtern nicht fehlte, welche noch immer durch reichen Beſitz und angeſtammte Tüch¬ tigkeit eine politiſche Bedeutung ſich bewahrt hatten, ſo hatten ſie ſich doch in den Freiheitskriegen nicht bewährt; in ihren Kreiſen hatte ſich mannigfache Hinneigung zum Nationalfeinde gezeigt, die Erhaltung ihrer Standesrechte hatte ihnen höher gegolten, als des Volks Ruhm und Ehre, und was Athen be¬ trifft, ſo hatte ſich hier deutlich gezeigt, daß die Ariſtokratie ihre Vaterſtadt lieber unter Sparta gebeugt, als in freier Verfaſſung aufblühen ſehen wollte. Die ernſte Mahnung der Geſchichte, daß alle politiſchen Rechte verwirkt werden, wenn die Inhaber derſelben ſich in frevelhaftem Selbſtdünkel der Bewegung der Zeit entgegenſtemmen, hatte ſich auch hier bewährt; der Adel hatte die Führerſchaft verloren und ſeine Schuld war es, daß die Demokratie die allein mögliche Verfaſſung war. Aber auch ſie war praktiſch unmöglich. Denn wie kann die Leitung eines ausgedehnten Reichs, das aus weitzer¬ ſtreuten und locker verbundenen Gliedern beſteht und überall angefeindet und bedroht wird, einer Bürgermenge überlaſſen werden, die auf offenem Markte tagt und in ihrer Geſammt¬ heit unfähig iſt, verwickelte Staatsverhältniſſe zu behandeln! Nicht ſelten ſind in der Geſchichte ſolche Fälle eingetreten, wo ein Staat plötzlich in Verhältniſſe kommt, in denen die hergebrachte Verfaſſung ſich für den erweiterten Beruf un¬ tauglich erweiſt, und es fehlt dann nicht an kühnen Männern, welche die Mängel abzuſtellen ſuchen. So erkannten in Gela die Söhne des Deinomenes, daß das ganze Griechenthum in Sicilien auf die Dauer nur durch eine ſtarke Concentration, durch die Aufrichtung einer Reichsmacht erhalten werden könne. Gelon machte daher mit Liſt und Gewalt Syrakus zum Mittel¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/326>, abgerufen am 23.11.2024.