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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Philosophie und Geschichte.

Der Physiker hat mit Thatsachen zu thun, welche ihm
nur als Material gelten. Er beobachtet, wägt, mißt, rechnet
und erwartet ruhig von der Natur die Beantwortung der an
sie gestellten Fragen, und wenn der Mensch Gegenstand der
Forschung ist, so ist der einzelne nur ein Exemplar seiner Gat¬
tung. Der Geschichtschreiber aber steht zwischen Individuen,
zu denen er in persönliche Beziehung tritt, die seine Zu- oder
Abneigung erwecken, und so ernstlich er auch beflissen ist, jede
subjective Regung zurück zu drängen, muß er doch aus seinem
Gefühl heraus entscheiden, wo das bloße Zeugenverhör nicht
ausreicht, und sein Urtheil kann nicht wie das Resultat einer
Naturbeobachtung durch mathematische Methode bewiesen wer¬
den. Bei dieser schwierigen Aufgabe kommt Alles auf volle
Unbefangenheit und Gerechtigkeit an, auf die unbedingte Frei¬
heit eines philosophisch gebildeten Geistes, der sich von allen
störenden Einflüssen angeborener Vorurtheile oder einseitiger
Weltanschauung in religiösen und in politischen Fragen gelöst
hat. Denn wenn z. B. englische Geschichtschreiber ihre Kennt¬
niß des praktischen Staatslebens auch mit großem Erfolg ver¬
werthet und eine eindringendere Betrachtung des antiken Staats
dadurch wesentlich gefördert haben, so kann doch die Gesammt¬
anschauung der Geschichte darunter nur leiden, wenn sie, anstatt
mit vollkommener Unparteilichkeit, vom Standpunkte eines
Whig oder Tory ins Auge gefaßt wird.

Es gehen aber auch durch die Wissenschaft gewisse Strö¬
mungen, welche, wie Ebbe und Fluth wechselnd, auf das ge¬
schichtliche Urtheil einwirken. Auch in der wissenschaftlichen
Betrachtung der Dinge giebt es Moden. Man schwärmt zu
Zeiten für gewisse Verfassungsformen; man ist zu einer Zeit
besonders bestrebt, den Culturzusammenhang ganzer Zeitalter
nachzuweisen, zu andern Zeiten die Individualität der Einzel¬
völker kräftig hervorzuheben. Von einem Standpunkt wird der
priesterliche Einfluß auf die Entwickelung der Völker geltend ge¬
macht, von andrer Seite mit fanatischem Eifer dagegen protestirt.

Solchen Stimmungen gegenüber, welche gewisse Zeiten
und Kreise beherrschen, bedarf es einer durch philosophisches

Philoſophie und Geſchichte.

Der Phyſiker hat mit Thatſachen zu thun, welche ihm
nur als Material gelten. Er beobachtet, wägt, mißt, rechnet
und erwartet ruhig von der Natur die Beantwortung der an
ſie geſtellten Fragen, und wenn der Menſch Gegenſtand der
Forſchung iſt, ſo iſt der einzelne nur ein Exemplar ſeiner Gat¬
tung. Der Geſchichtſchreiber aber ſteht zwiſchen Individuen,
zu denen er in perſönliche Beziehung tritt, die ſeine Zu- oder
Abneigung erwecken, und ſo ernſtlich er auch befliſſen iſt, jede
ſubjective Regung zurück zu drängen, muß er doch aus ſeinem
Gefühl heraus entſcheiden, wo das bloße Zeugenverhör nicht
ausreicht, und ſein Urtheil kann nicht wie das Reſultat einer
Naturbeobachtung durch mathematiſche Methode bewieſen wer¬
den. Bei dieſer ſchwierigen Aufgabe kommt Alles auf volle
Unbefangenheit und Gerechtigkeit an, auf die unbedingte Frei¬
heit eines philoſophiſch gebildeten Geiſtes, der ſich von allen
ſtörenden Einflüſſen angeborener Vorurtheile oder einſeitiger
Weltanſchauung in religiöſen und in politiſchen Fragen gelöſt
hat. Denn wenn z. B. engliſche Geſchichtſchreiber ihre Kennt¬
niß des praktiſchen Staatslebens auch mit großem Erfolg ver¬
werthet und eine eindringendere Betrachtung des antiken Staats
dadurch weſentlich gefördert haben, ſo kann doch die Geſammt¬
anſchauung der Geſchichte darunter nur leiden, wenn ſie, anſtatt
mit vollkommener Unparteilichkeit, vom Standpunkte eines
Whig oder Tory ins Auge gefaßt wird.

Es gehen aber auch durch die Wiſſenſchaft gewiſſe Strö¬
mungen, welche, wie Ebbe und Fluth wechſelnd, auf das ge¬
ſchichtliche Urtheil einwirken. Auch in der wiſſenſchaftlichen
Betrachtung der Dinge giebt es Moden. Man ſchwärmt zu
Zeiten für gewiſſe Verfaſſungsformen; man iſt zu einer Zeit
beſonders beſtrebt, den Culturzuſammenhang ganzer Zeitalter
nachzuweiſen, zu andern Zeiten die Individualität der Einzel¬
völker kräftig hervorzuheben. Von einem Standpunkt wird der
prieſterliche Einfluß auf die Entwickelung der Völker geltend ge¬
macht, von andrer Seite mit fanatiſchem Eifer dagegen proteſtirt.

Solchen Stimmungen gegenüber, welche gewiſſe Zeiten
und Kreiſe beherrſchen, bedarf es einer durch philoſophiſches

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[296/0312] Philoſophie und Geſchichte. Der Phyſiker hat mit Thatſachen zu thun, welche ihm nur als Material gelten. Er beobachtet, wägt, mißt, rechnet und erwartet ruhig von der Natur die Beantwortung der an ſie geſtellten Fragen, und wenn der Menſch Gegenſtand der Forſchung iſt, ſo iſt der einzelne nur ein Exemplar ſeiner Gat¬ tung. Der Geſchichtſchreiber aber ſteht zwiſchen Individuen, zu denen er in perſönliche Beziehung tritt, die ſeine Zu- oder Abneigung erwecken, und ſo ernſtlich er auch befliſſen iſt, jede ſubjective Regung zurück zu drängen, muß er doch aus ſeinem Gefühl heraus entſcheiden, wo das bloße Zeugenverhör nicht ausreicht, und ſein Urtheil kann nicht wie das Reſultat einer Naturbeobachtung durch mathematiſche Methode bewieſen wer¬ den. Bei dieſer ſchwierigen Aufgabe kommt Alles auf volle Unbefangenheit und Gerechtigkeit an, auf die unbedingte Frei¬ heit eines philoſophiſch gebildeten Geiſtes, der ſich von allen ſtörenden Einflüſſen angeborener Vorurtheile oder einſeitiger Weltanſchauung in religiöſen und in politiſchen Fragen gelöſt hat. Denn wenn z. B. engliſche Geſchichtſchreiber ihre Kennt¬ niß des praktiſchen Staatslebens auch mit großem Erfolg ver¬ werthet und eine eindringendere Betrachtung des antiken Staats dadurch weſentlich gefördert haben, ſo kann doch die Geſammt¬ anſchauung der Geſchichte darunter nur leiden, wenn ſie, anſtatt mit vollkommener Unparteilichkeit, vom Standpunkte eines Whig oder Tory ins Auge gefaßt wird. Es gehen aber auch durch die Wiſſenſchaft gewiſſe Strö¬ mungen, welche, wie Ebbe und Fluth wechſelnd, auf das ge¬ ſchichtliche Urtheil einwirken. Auch in der wiſſenſchaftlichen Betrachtung der Dinge giebt es Moden. Man ſchwärmt zu Zeiten für gewiſſe Verfaſſungsformen; man iſt zu einer Zeit beſonders beſtrebt, den Culturzuſammenhang ganzer Zeitalter nachzuweiſen, zu andern Zeiten die Individualität der Einzel¬ völker kräftig hervorzuheben. Von einem Standpunkt wird der prieſterliche Einfluß auf die Entwickelung der Völker geltend ge¬ macht, von andrer Seite mit fanatiſchem Eifer dagegen proteſtirt. Solchen Stimmungen gegenüber, welche gewiſſe Zeiten und Kreiſe beherrſchen, bedarf es einer durch philoſophiſches

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/312>, abgerufen am 23.11.2024.