Denken erworbenen Selbständigkeit, um durch störende Ein¬ flüsse unbeirrt das hohe Ziel voller Unparteilichkeit zu erringen.
Mit der historischen Unbefangenheit ist es aber auch un¬ verträglich, wenn man darauf ausgeht, gewisse Gesetze, nach denen sich wie nach einer höheren Mechanik die menschlichen Dinge bewegen sollen, in der Geschichte zu finden. Die wahr¬ haft philosophische Betrachtungsweise wird vielmehr darin liegen, daß man ohne alle vorgefaßten Gesichtspunkte mit reiner Erkenntnißliebe in den Stoff eindringt und die volle Befriedigung darin findet, daß man das fragmentarisch Ueber¬ lieferte in seinem Zusammenhange und das Vollendete in sei¬ nem Werden verstehe.
Die Geschichte gleicht einem Gewebe, dessen Fäden sich auf jedem Punkte in zwei Richtungen kreuzen. So stehen alle That¬ sachen mit Reihen gleichzeitiger so wie mit Reihen vorangegange¬ ner und nachfolgender Thatsachen in unauflöslicher Verbindung.
Ein figurenreiches Gewebe kann nur, wenn es fertig ist, übersehen und von einem gewissen, nicht zu nahen Stand¬ punkte aus gewürdigt und verstanden werden. Das Verständ¬ niß der Weltgeschichte ist also eine übermenschliche Aufgabe. Annähernd kann sie aber dort am meisten verwirklicht werden, wo wir einen begränzten Theil des Weltgemäldes überschauen, und darum ist in der Geschichte des Alterthums das höchste Ziel wissenschaftlicher Geschichtsbetrachtung am ehesten zu erreichen.
Freilich steht die Geschichte des Alterthums hinter der neuern Geschichte in großem Nachtheil. Für die letztere strö¬ men, wenn ein verschloßner Archivschrank sich öffnet, frische Quellen hervor und geben zu Werken neuer Belehrung reich¬ lichen Stoff. Die neuen Quellen der alten Geschichte fließen spärlich, und es wird keine geringe Selbstverläugnung erfor¬ dert, um immer von Neuem den Versuch zu machen, die zer¬ rissenen Fäden der Ueberlieferung herzustellen und versprengte Quellenzeugnisse neu zu verwerthen. Aber wir haben doch keine so in allen Entwickelungsstadien übersichtliche, auf heimi¬ schem Boden erwachsene und mit ihm verknüpfte Geschichte wie die der klassischen Völker. Das viel mißbrauchte Gleichniß
Philoſophie und Geſchichte.
Denken erworbenen Selbſtändigkeit, um durch ſtörende Ein¬ flüſſe unbeirrt das hohe Ziel voller Unparteilichkeit zu erringen.
Mit der hiſtoriſchen Unbefangenheit iſt es aber auch un¬ verträglich, wenn man darauf ausgeht, gewiſſe Geſetze, nach denen ſich wie nach einer höheren Mechanik die menſchlichen Dinge bewegen ſollen, in der Geſchichte zu finden. Die wahr¬ haft philoſophiſche Betrachtungsweiſe wird vielmehr darin liegen, daß man ohne alle vorgefaßten Geſichtspunkte mit reiner Erkenntnißliebe in den Stoff eindringt und die volle Befriedigung darin findet, daß man das fragmentariſch Ueber¬ lieferte in ſeinem Zuſammenhange und das Vollendete in ſei¬ nem Werden verſtehe.
Die Geſchichte gleicht einem Gewebe, deſſen Fäden ſich auf jedem Punkte in zwei Richtungen kreuzen. So ſtehen alle That¬ ſachen mit Reihen gleichzeitiger ſo wie mit Reihen vorangegange¬ ner und nachfolgender Thatſachen in unauflöslicher Verbindung.
Ein figurenreiches Gewebe kann nur, wenn es fertig iſt, überſehen und von einem gewiſſen, nicht zu nahen Stand¬ punkte aus gewürdigt und verſtanden werden. Das Verſtänd¬ niß der Weltgeſchichte iſt alſo eine übermenſchliche Aufgabe. Annähernd kann ſie aber dort am meiſten verwirklicht werden, wo wir einen begränzten Theil des Weltgemäldes überſchauen, und darum iſt in der Geſchichte des Alterthums das höchſte Ziel wiſſenſchaftlicher Geſchichtsbetrachtung am eheſten zu erreichen.
Freilich ſteht die Geſchichte des Alterthums hinter der neuern Geſchichte in großem Nachtheil. Für die letztere ſtrö¬ men, wenn ein verſchloßner Archivſchrank ſich öffnet, friſche Quellen hervor und geben zu Werken neuer Belehrung reich¬ lichen Stoff. Die neuen Quellen der alten Geſchichte fließen ſpärlich, und es wird keine geringe Selbſtverläugnung erfor¬ dert, um immer von Neuem den Verſuch zu machen, die zer¬ riſſenen Fäden der Ueberlieferung herzuſtellen und verſprengte Quellenzeugniſſe neu zu verwerthen. Aber wir haben doch keine ſo in allen Entwickelungsſtadien überſichtliche, auf heimi¬ ſchem Boden erwachſene und mit ihm verknüpfte Geſchichte wie die der klaſſiſchen Völker. Das viel mißbrauchte Gleichniß
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Philoſophie und Geſchichte.
Denken erworbenen Selbſtändigkeit, um durch ſtörende Ein¬
flüſſe unbeirrt das hohe Ziel voller Unparteilichkeit zu erringen.
Mit der hiſtoriſchen Unbefangenheit iſt es aber auch un¬
verträglich, wenn man darauf ausgeht, gewiſſe Geſetze, nach
denen ſich wie nach einer höheren Mechanik die menſchlichen
Dinge bewegen ſollen, in der Geſchichte zu finden. Die wahr¬
haft philoſophiſche Betrachtungsweiſe wird vielmehr darin
liegen, daß man ohne alle vorgefaßten Geſichtspunkte mit
reiner Erkenntnißliebe in den Stoff eindringt und die volle
Befriedigung darin findet, daß man das fragmentariſch Ueber¬
lieferte in ſeinem Zuſammenhange und das Vollendete in ſei¬
nem Werden verſtehe.
Die Geſchichte gleicht einem Gewebe, deſſen Fäden ſich auf
jedem Punkte in zwei Richtungen kreuzen. So ſtehen alle That¬
ſachen mit Reihen gleichzeitiger ſo wie mit Reihen vorangegange¬
ner und nachfolgender Thatſachen in unauflöslicher Verbindung.
Ein figurenreiches Gewebe kann nur, wenn es fertig iſt,
überſehen und von einem gewiſſen, nicht zu nahen Stand¬
punkte aus gewürdigt und verſtanden werden. Das Verſtänd¬
niß der Weltgeſchichte iſt alſo eine übermenſchliche Aufgabe.
Annähernd kann ſie aber dort am meiſten verwirklicht werden,
wo wir einen begränzten Theil des Weltgemäldes überſchauen,
und darum iſt in der Geſchichte des Alterthums das höchſte Ziel
wiſſenſchaftlicher Geſchichtsbetrachtung am eheſten zu erreichen.
Freilich ſteht die Geſchichte des Alterthums hinter der
neuern Geſchichte in großem Nachtheil. Für die letztere ſtrö¬
men, wenn ein verſchloßner Archivſchrank ſich öffnet, friſche
Quellen hervor und geben zu Werken neuer Belehrung reich¬
lichen Stoff. Die neuen Quellen der alten Geſchichte fließen
ſpärlich, und es wird keine geringe Selbſtverläugnung erfor¬
dert, um immer von Neuem den Verſuch zu machen, die zer¬
riſſenen Fäden der Ueberlieferung herzuſtellen und verſprengte
Quellenzeugniſſe neu zu verwerthen. Aber wir haben doch
keine ſo in allen Entwickelungsſtadien überſichtliche, auf heimi¬
ſchem Boden erwachſene und mit ihm verknüpfte Geſchichte wie
die der klaſſiſchen Völker. Das viel mißbrauchte Gleichniß
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/313>, abgerufen am 22.07.2024.
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