dankens das Besondere in das Typische, das Individuelle in das Allgemeine zu sehr verflüchtigt und das eigentlich histo¬ rische Interesse nicht zu seinem Rechte gekommen.
Um diesem Mangel abzuhelfen, bedurfte es einer For¬ schung, die, dem speculativen Interesse abgewendet, ins volle Leben hineingriff und, von warmer Heimathsliebe beseelt, das Sonderleben einzelner Stämme und Städte, den Mikrokos¬ mus des bürgerlichen Gemeinwesens in der Fülle seiner sitt¬ lichen und rechtlichen Gestaltung zum Kerne des Studiums machte. Das ist zuerst durch Justus Möser geschehen, und wie durch ihn auch für die entlegensten Gebiete ein neues Leben begonnen hat, lehrt die Geschichte des Alterthums. Sie ist eine wesentlich andere geworden, seit man die Stämme und Städte als die eigentlichen Träger des geschichtlichen Lebens erkannt und mit eindringender Forschung ergründet hat, wie es auf dem Boden des Griechischen durch Böckh und Otfried Müller geschehen ist.
Seitdem ist die Geschichte zu so selbständigem Leben er¬ starkt, daß sie weder zu befürchten hat, von Seiten philoso¬ phischer Systeme einen Zwang zu erfahren, der ihre freie Be¬ wegung beeinträchtige, noch durch eine zu lockere, philosophisch¬ ästhetische Betrachtung, wie die zum Humanitätsprincipe Herder's führende war, ihren Ernst einzubüßen und an ihrem Gehalt verkürzt zu werden. Der Versuch, die Geschichte vom Stand¬ punkt eines Systems behandeln zu wollen, erscheint jetzt kaum mehr möglich und ebenso wenig kann man ernstlich daran denken, neben der Geschichte eine Philosophie der Geschichte als besondere Wissenschaft aufzustellen, welche gleichsam einen Extrakt der Geschichte gäbe.
Darum sollen aber Philosophie und Geschichte sich nicht den Rücken kehren, sondern, wenn sich kein äußerliches, gleich¬ sam officielles Band herstellen läßt, sollen sie sich innerlich um so fester mit einander verbinden. Philosophie ist die Waffen¬ rüstung zu jeder wissenschaftlichen Aufgabe und der Historiker wird bei den eigenthümlichen Schwierigkeiten der seinigen am wenigsten darauf verzichten dürfen.
Philoſophie und Geſchichte.
dankens das Beſondere in das Typiſche, das Individuelle in das Allgemeine zu ſehr verflüchtigt und das eigentlich hiſto¬ riſche Intereſſe nicht zu ſeinem Rechte gekommen.
Um dieſem Mangel abzuhelfen, bedurfte es einer For¬ ſchung, die, dem ſpeculativen Intereſſe abgewendet, ins volle Leben hineingriff und, von warmer Heimathsliebe beſeelt, das Sonderleben einzelner Stämme und Städte, den Mikrokos¬ mus des bürgerlichen Gemeinweſens in der Fülle ſeiner ſitt¬ lichen und rechtlichen Geſtaltung zum Kerne des Studiums machte. Das iſt zuerſt durch Juſtus Möſer geſchehen, und wie durch ihn auch für die entlegenſten Gebiete ein neues Leben begonnen hat, lehrt die Geſchichte des Alterthums. Sie iſt eine weſentlich andere geworden, ſeit man die Stämme und Städte als die eigentlichen Träger des geſchichtlichen Lebens erkannt und mit eindringender Forſchung ergründet hat, wie es auf dem Boden des Griechiſchen durch Böckh und Otfried Müller geſchehen iſt.
Seitdem iſt die Geſchichte zu ſo ſelbſtändigem Leben er¬ ſtarkt, daß ſie weder zu befürchten hat, von Seiten philoſo¬ phiſcher Syſteme einen Zwang zu erfahren, der ihre freie Be¬ wegung beeinträchtige, noch durch eine zu lockere, philoſophiſch¬ äſthetiſche Betrachtung, wie die zum Humanitätsprincipe Herder's führende war, ihren Ernſt einzubüßen und an ihrem Gehalt verkürzt zu werden. Der Verſuch, die Geſchichte vom Stand¬ punkt eines Syſtems behandeln zu wollen, erſcheint jetzt kaum mehr möglich und ebenſo wenig kann man ernſtlich daran denken, neben der Geſchichte eine Philoſophie der Geſchichte als beſondere Wiſſenſchaft aufzuſtellen, welche gleichſam einen Extrakt der Geſchichte gäbe.
Darum ſollen aber Philoſophie und Geſchichte ſich nicht den Rücken kehren, ſondern, wenn ſich kein äußerliches, gleich¬ ſam officielles Band herſtellen läßt, ſollen ſie ſich innerlich um ſo feſter mit einander verbinden. Philoſophie iſt die Waffen¬ rüſtung zu jeder wiſſenſchaftlichen Aufgabe und der Hiſtoriker wird bei den eigenthümlichen Schwierigkeiten der ſeinigen am wenigſten darauf verzichten dürfen.
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Philoſophie und Geſchichte.
dankens das Beſondere in das Typiſche, das Individuelle in
das Allgemeine zu ſehr verflüchtigt und das eigentlich hiſto¬
riſche Intereſſe nicht zu ſeinem Rechte gekommen.
Um dieſem Mangel abzuhelfen, bedurfte es einer For¬
ſchung, die, dem ſpeculativen Intereſſe abgewendet, ins volle
Leben hineingriff und, von warmer Heimathsliebe beſeelt, das
Sonderleben einzelner Stämme und Städte, den Mikrokos¬
mus des bürgerlichen Gemeinweſens in der Fülle ſeiner ſitt¬
lichen und rechtlichen Geſtaltung zum Kerne des Studiums
machte. Das iſt zuerſt durch Juſtus Möſer geſchehen, und
wie durch ihn auch für die entlegenſten Gebiete ein neues
Leben begonnen hat, lehrt die Geſchichte des Alterthums. Sie
iſt eine weſentlich andere geworden, ſeit man die Stämme und
Städte als die eigentlichen Träger des geſchichtlichen Lebens
erkannt und mit eindringender Forſchung ergründet hat, wie
es auf dem Boden des Griechiſchen durch Böckh und Otfried
Müller geſchehen iſt.
Seitdem iſt die Geſchichte zu ſo ſelbſtändigem Leben er¬
ſtarkt, daß ſie weder zu befürchten hat, von Seiten philoſo¬
phiſcher Syſteme einen Zwang zu erfahren, der ihre freie Be¬
wegung beeinträchtige, noch durch eine zu lockere, philoſophiſch¬
äſthetiſche Betrachtung, wie die zum Humanitätsprincipe Herder's
führende war, ihren Ernſt einzubüßen und an ihrem Gehalt
verkürzt zu werden. Der Verſuch, die Geſchichte vom Stand¬
punkt eines Syſtems behandeln zu wollen, erſcheint jetzt kaum
mehr möglich und ebenſo wenig kann man ernſtlich daran
denken, neben der Geſchichte eine Philoſophie der Geſchichte
als beſondere Wiſſenſchaft aufzuſtellen, welche gleichſam einen
Extrakt der Geſchichte gäbe.
Darum ſollen aber Philoſophie und Geſchichte ſich nicht
den Rücken kehren, ſondern, wenn ſich kein äußerliches, gleich¬
ſam officielles Band herſtellen läßt, ſollen ſie ſich innerlich um
ſo feſter mit einander verbinden. Philoſophie iſt die Waffen¬
rüſtung zu jeder wiſſenſchaftlichen Aufgabe und der Hiſtoriker
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/311>, abgerufen am 03.07.2024.
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