Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Philosophie und Geschichte. dankens das Besondere in das Typische, das Individuelle indas Allgemeine zu sehr verflüchtigt und das eigentlich histo¬ rische Interesse nicht zu seinem Rechte gekommen. Um diesem Mangel abzuhelfen, bedurfte es einer For¬ Seitdem ist die Geschichte zu so selbständigem Leben er¬ Darum sollen aber Philosophie und Geschichte sich nicht Philoſophie und Geſchichte. dankens das Beſondere in das Typiſche, das Individuelle indas Allgemeine zu ſehr verflüchtigt und das eigentlich hiſto¬ riſche Intereſſe nicht zu ſeinem Rechte gekommen. Um dieſem Mangel abzuhelfen, bedurfte es einer For¬ Seitdem iſt die Geſchichte zu ſo ſelbſtändigem Leben er¬ Darum ſollen aber Philoſophie und Geſchichte ſich nicht <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0311" n="295"/><fw place="top" type="header">Philoſophie und Geſchichte.<lb/></fw> dankens das Beſondere in das Typiſche, das Individuelle in<lb/> das Allgemeine zu ſehr verflüchtigt und das eigentlich hiſto¬<lb/> riſche Intereſſe nicht zu ſeinem Rechte gekommen.</p><lb/> <p>Um dieſem Mangel abzuhelfen, bedurfte es einer For¬<lb/> ſchung, die, dem ſpeculativen Intereſſe abgewendet, ins volle<lb/> Leben hineingriff und, von warmer Heimathsliebe beſeelt, das<lb/> Sonderleben einzelner Stämme und Städte, den Mikrokos¬<lb/> mus des bürgerlichen Gemeinweſens in der Fülle ſeiner ſitt¬<lb/> lichen und rechtlichen Geſtaltung zum Kerne des Studiums<lb/> machte. Das iſt zuerſt durch Juſtus Möſer geſchehen, und<lb/> wie durch ihn auch für die entlegenſten Gebiete ein neues<lb/> Leben begonnen hat, lehrt die Geſchichte des Alterthums. Sie<lb/> iſt eine weſentlich andere geworden, ſeit man die Stämme und<lb/> Städte als die eigentlichen Träger des geſchichtlichen Lebens<lb/> erkannt und mit eindringender Forſchung ergründet hat, wie<lb/> es auf dem Boden des Griechiſchen durch Böckh und Otfried<lb/> Müller geſchehen iſt.</p><lb/> <p>Seitdem iſt die Geſchichte zu ſo ſelbſtändigem Leben er¬<lb/> ſtarkt, daß ſie weder zu befürchten hat, von Seiten philoſo¬<lb/> phiſcher Syſteme einen Zwang zu erfahren, der ihre freie Be¬<lb/> wegung beeinträchtige, noch durch eine zu lockere, philoſophiſch¬<lb/> äſthetiſche Betrachtung, wie die zum Humanitätsprincipe Herder's<lb/> führende war, ihren Ernſt einzubüßen und an ihrem Gehalt<lb/> verkürzt zu werden. Der Verſuch, die Geſchichte vom Stand¬<lb/> punkt eines Syſtems behandeln zu wollen, erſcheint jetzt kaum<lb/> mehr möglich und ebenſo wenig kann man ernſtlich daran<lb/> denken, neben der Geſchichte eine Philoſophie der Geſchichte<lb/> als beſondere Wiſſenſchaft aufzuſtellen, welche gleichſam einen<lb/> Extrakt der Geſchichte gäbe.</p><lb/> <p>Darum ſollen aber Philoſophie und Geſchichte ſich nicht<lb/> den Rücken kehren, ſondern, wenn ſich kein äußerliches, gleich¬<lb/> ſam officielles Band herſtellen läßt, ſollen ſie ſich innerlich um<lb/> ſo feſter mit einander verbinden. Philoſophie iſt die Waffen¬<lb/> rüſtung zu jeder wiſſenſchaftlichen Aufgabe und der Hiſtoriker<lb/> wird bei den eigenthümlichen Schwierigkeiten der ſeinigen am<lb/> wenigſten darauf verzichten dürfen.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [295/0311]
Philoſophie und Geſchichte.
dankens das Beſondere in das Typiſche, das Individuelle in
das Allgemeine zu ſehr verflüchtigt und das eigentlich hiſto¬
riſche Intereſſe nicht zu ſeinem Rechte gekommen.
Um dieſem Mangel abzuhelfen, bedurfte es einer For¬
ſchung, die, dem ſpeculativen Intereſſe abgewendet, ins volle
Leben hineingriff und, von warmer Heimathsliebe beſeelt, das
Sonderleben einzelner Stämme und Städte, den Mikrokos¬
mus des bürgerlichen Gemeinweſens in der Fülle ſeiner ſitt¬
lichen und rechtlichen Geſtaltung zum Kerne des Studiums
machte. Das iſt zuerſt durch Juſtus Möſer geſchehen, und
wie durch ihn auch für die entlegenſten Gebiete ein neues
Leben begonnen hat, lehrt die Geſchichte des Alterthums. Sie
iſt eine weſentlich andere geworden, ſeit man die Stämme und
Städte als die eigentlichen Träger des geſchichtlichen Lebens
erkannt und mit eindringender Forſchung ergründet hat, wie
es auf dem Boden des Griechiſchen durch Böckh und Otfried
Müller geſchehen iſt.
Seitdem iſt die Geſchichte zu ſo ſelbſtändigem Leben er¬
ſtarkt, daß ſie weder zu befürchten hat, von Seiten philoſo¬
phiſcher Syſteme einen Zwang zu erfahren, der ihre freie Be¬
wegung beeinträchtige, noch durch eine zu lockere, philoſophiſch¬
äſthetiſche Betrachtung, wie die zum Humanitätsprincipe Herder's
führende war, ihren Ernſt einzubüßen und an ihrem Gehalt
verkürzt zu werden. Der Verſuch, die Geſchichte vom Stand¬
punkt eines Syſtems behandeln zu wollen, erſcheint jetzt kaum
mehr möglich und ebenſo wenig kann man ernſtlich daran
denken, neben der Geſchichte eine Philoſophie der Geſchichte
als beſondere Wiſſenſchaft aufzuſtellen, welche gleichſam einen
Extrakt der Geſchichte gäbe.
Darum ſollen aber Philoſophie und Geſchichte ſich nicht
den Rücken kehren, ſondern, wenn ſich kein äußerliches, gleich¬
ſam officielles Band herſtellen läßt, ſollen ſie ſich innerlich um
ſo feſter mit einander verbinden. Philoſophie iſt die Waffen¬
rüſtung zu jeder wiſſenſchaftlichen Aufgabe und der Hiſtoriker
wird bei den eigenthümlichen Schwierigkeiten der ſeinigen am
wenigſten darauf verzichten dürfen.
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