Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Der historische Sinn der Griechen. geschlossen, wie denn auch das geschichtliche Leben noch nichterloschen war. Es erfolgten neue und glückliche Freiheitsbe¬ strebungen, neue Staatenbildungen; im Achäerbunde erhebt sich der älteste Hellenenstamm zu verjüngter Kraft, und wie es sich in Theopomp's Zeit um das Verhältniß zu Makedonien handelte, so jetzt um das zu Rom. Und da tritt uns nun der helle Geist des Polybios entgegen, welcher, mitten in den Weltbegebenheiten stehend und handelnd, zugleich den noth¬ wendigen Gang derselben erkannte. Obgleich ein begeisterter Patriot, sieht er doch ein, daß Griechenland nur als Glied des neuen großen Weltganzen, dessen Führer die Römer sind, fortbestehen könne. Dabei gereicht es seinem hellenischen Ge¬ fühle zur Beruhigung, daß nicht der Zufall mit den Schick¬ salen der Völker spiele und daß Roms Größe nicht ein Erfolg des blinden Glücks sei, sondern eine durch Tugend erworbene und von den Göttern gewollte. Ihm gebührt daher die Hege¬ monie in dem Staatensysteme, welchem die Hellenen sich ein¬ ordnen müssen, und ihr Glück hängt davon ab, daß sie sich mit dem Herrn der Welt geistig so verständigen, wie Polybios selbst mit den bedeutendsten Römern seiner Zeit. So steht Polybios zwischen den beiden Hauptvölkern der Als nun das kaiserliche Rom die Verschmelzung der helle¬ Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. geſchloſſen, wie denn auch das geſchichtliche Leben noch nichterloſchen war. Es erfolgten neue und glückliche Freiheitsbe¬ ſtrebungen, neue Staatenbildungen; im Achäerbunde erhebt ſich der älteſte Hellenenſtamm zu verjüngter Kraft, und wie es ſich in Theopomp's Zeit um das Verhältniß zu Makedonien handelte, ſo jetzt um das zu Rom. Und da tritt uns nun der helle Geiſt des Polybios entgegen, welcher, mitten in den Weltbegebenheiten ſtehend und handelnd, zugleich den noth¬ wendigen Gang derſelben erkannte. Obgleich ein begeiſterter Patriot, ſieht er doch ein, daß Griechenland nur als Glied des neuen großen Weltganzen, deſſen Führer die Römer ſind, fortbeſtehen könne. Dabei gereicht es ſeinem helleniſchen Ge¬ fühle zur Beruhigung, daß nicht der Zufall mit den Schick¬ ſalen der Völker ſpiele und daß Roms Größe nicht ein Erfolg des blinden Glücks ſei, ſondern eine durch Tugend erworbene und von den Göttern gewollte. Ihm gebührt daher die Hege¬ monie in dem Staatenſyſteme, welchem die Hellenen ſich ein¬ ordnen müſſen, und ihr Glück hängt davon ab, daß ſie ſich mit dem Herrn der Welt geiſtig ſo verſtändigen, wie Polybios ſelbſt mit den bedeutendſten Römern ſeiner Zeit. So ſteht Polybios zwiſchen den beiden Hauptvölkern der Als nun das kaiſerliche Rom die Verſchmelzung der helle¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0301" n="285"/><fw place="top" type="header">Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.<lb/></fw> geſchloſſen, wie denn auch das geſchichtliche Leben noch nicht<lb/> erloſchen war. Es erfolgten neue und glückliche Freiheitsbe¬<lb/> ſtrebungen, neue Staatenbildungen; im Achäerbunde erhebt ſich<lb/> der älteſte Hellenenſtamm zu verjüngter Kraft, und wie es<lb/> ſich in Theopomp's Zeit um das Verhältniß zu Makedonien<lb/> handelte, ſo jetzt um das zu Rom. Und da tritt uns nun der<lb/> helle Geiſt des Polybios entgegen, welcher, mitten in den<lb/> Weltbegebenheiten ſtehend und handelnd, zugleich den noth¬<lb/> wendigen Gang derſelben erkannte. Obgleich ein begeiſterter<lb/> Patriot, ſieht er doch ein, daß Griechenland nur als Glied<lb/> des neuen großen Weltganzen, deſſen Führer die Römer ſind,<lb/> fortbeſtehen könne. 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Das ſind, im Zeitalter der Scipionen<lb/> ausgeſprochen, Andeutungen, welche von einer Reife des Ur¬<lb/> theils zeugen, die nur aus der Verbindung hiſtoriſcher For¬<lb/> ſchung und philoſophiſcher Bildung, wie ſie bei den nach¬<lb/> ariſtoteliſchen Griechen vorkommt, ſich erklären läßt.</p><lb/> <p>Als nun das kaiſerliche Rom die Verſchmelzung der helle¬<lb/> niſchen und italiſchen Cultur, für welche Polybios gewirkt<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [285/0301]
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
geſchloſſen, wie denn auch das geſchichtliche Leben noch nicht
erloſchen war. Es erfolgten neue und glückliche Freiheitsbe¬
ſtrebungen, neue Staatenbildungen; im Achäerbunde erhebt ſich
der älteſte Hellenenſtamm zu verjüngter Kraft, und wie es
ſich in Theopomp's Zeit um das Verhältniß zu Makedonien
handelte, ſo jetzt um das zu Rom. Und da tritt uns nun der
helle Geiſt des Polybios entgegen, welcher, mitten in den
Weltbegebenheiten ſtehend und handelnd, zugleich den noth¬
wendigen Gang derſelben erkannte. Obgleich ein begeiſterter
Patriot, ſieht er doch ein, daß Griechenland nur als Glied
des neuen großen Weltganzen, deſſen Führer die Römer ſind,
fortbeſtehen könne. Dabei gereicht es ſeinem helleniſchen Ge¬
fühle zur Beruhigung, daß nicht der Zufall mit den Schick¬
ſalen der Völker ſpiele und daß Roms Größe nicht ein Erfolg
des blinden Glücks ſei, ſondern eine durch Tugend erworbene
und von den Göttern gewollte. Ihm gebührt daher die Hege¬
monie in dem Staatenſyſteme, welchem die Hellenen ſich ein¬
ordnen müſſen, und ihr Glück hängt davon ab, daß ſie ſich
mit dem Herrn der Welt geiſtig ſo verſtändigen, wie Polybios
ſelbſt mit den bedeutendſten Römern ſeiner Zeit.
So ſteht Polybios zwiſchen den beiden Hauptvölkern der
alten Welt mit einer ſo großartigen Miſſion, wie ſie einem
Hiſtoriker ſelten zu Theil wird, auf einem Wendepunkte der
alten Geſchichte, auf dem er rückwärts und vorwärts ſchaut.
Denn er erkennt auch, daß daſſelbe Rom, deſſen Weltherr¬
ſchaftsberuf er vertritt, im Kriege mit Hannibal Wunden em¬
pfangen habe, von denen die Volkskraft Italiens ſich nicht
wieder erholen könne, und er ſagt es voraus, daß auch Roms
Herrſchaft durch Sittenverderbniß und Eroberungsſucht ſeinem
Verfalle entgegengehe. Das ſind, im Zeitalter der Scipionen
ausgeſprochen, Andeutungen, welche von einer Reife des Ur¬
theils zeugen, die nur aus der Verbindung hiſtoriſcher For¬
ſchung und philoſophiſcher Bildung, wie ſie bei den nach¬
ariſtoteliſchen Griechen vorkommt, ſich erklären läßt.
Als nun das kaiſerliche Rom die Verſchmelzung der helle¬
niſchen und italiſchen Cultur, für welche Polybios gewirkt
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