hatte, durchführte, da waren es wiederum nicht Römer, son¬ dern Griechen, welche den neuen, Standpunkt der Geschichte auch in der Wissenschaft geltend machten. Dionysios durch¬ forschte die römische Vorzeit, um seinen Landsleuten die Römer als ein ebenbürtiges und stammverwandtes Volk darzustellen. Diodoros faßte die Geschichte aller Völker zusammen, welche Rom als Erbschaft untergegangener Reiche beherrschte, und Strabon entwarf sein großes Weltgemälde, mit philoso¬ phischem Geiste das Ganze umfassend und zugleich mit historischer Gelehrsamkeit das Einzelne durchdringend.
So kommen wir zu dem Schlusse, daß die Historie mit Recht ihren griechischen Namen trägt. Bei den Griechen ist sie als Wissenschaft zu Hause; sie haben Erd- und Völkerkunde mit Staatengeschichte, Ethik mit Politik in die fruchtbarste Verbindung gesetzt; sie haben nicht eine Philosophie der Ge¬ schichte als besondere Wissenschaft, sondern die Geschichte selbst mit philosophischem Geiste als eine ethische Wissenschaft ge¬ gründet. Sie haben bei allen Wendepunkten der Volksent¬ wickelung Männer gehabt, die mit hellem Blick die Bedeutung der Gegenwart erkannten, sie haben auch für die anderen Völker gedacht und geschaffen, ihre Ueberlieferungen geordnet, ihren geschichtlichen Beruf ihnen gedeutet. Gewiß haben wir also ein gutes Recht, sie trotz ihrer Schwächen auch auf dem Gebiete der Geschichte als ein hervorragend begabtes Volk anzusehen, und den mancherlei Verirrungen gegenüber, welche auch in neuster Zeit auftauchen, indem man die Geschichte der Menschheit als einen Tummelplatz blinder Naturgewalten dar¬ stellen und solche Betrachtungsweisen einführen will, bei welchen man sich von der irrigen Annahme eines freien Menschen¬ willens und einer göttlichen Weltregierung losmachen soll, haben uns die Hellenen ein Vorbild gegeben, wie wir in der Geschichte das Walten sittlicher Mächte und die Offenbarung eines göttlichen Willens zu erkennen haben. Sie haben der historischen Forschung die Weihe gegeben, welche zu erhalten unsere Aufgabe ist.
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
hatte, durchführte, da waren es wiederum nicht Römer, ſon¬ dern Griechen, welche den neuen, Standpunkt der Geſchichte auch in der Wiſſenſchaft geltend machten. Dionyſios durch¬ forſchte die römiſche Vorzeit, um ſeinen Landsleuten die Römer als ein ebenbürtiges und ſtammverwandtes Volk darzuſtellen. Diodoros faßte die Geſchichte aller Völker zuſammen, welche Rom als Erbſchaft untergegangener Reiche beherrſchte, und Strabon entwarf ſein großes Weltgemälde, mit philoſo¬ phiſchem Geiſte das Ganze umfaſſend und zugleich mit hiſtoriſcher Gelehrſamkeit das Einzelne durchdringend.
So kommen wir zu dem Schluſſe, daß die Hiſtorie mit Recht ihren griechiſchen Namen trägt. Bei den Griechen iſt ſie als Wiſſenſchaft zu Hauſe; ſie haben Erd- und Völkerkunde mit Staatengeſchichte, Ethik mit Politik in die fruchtbarſte Verbindung geſetzt; ſie haben nicht eine Philoſophie der Ge¬ ſchichte als beſondere Wiſſenſchaft, ſondern die Geſchichte ſelbſt mit philoſophiſchem Geiſte als eine ethiſche Wiſſenſchaft ge¬ gründet. Sie haben bei allen Wendepunkten der Volksent¬ wickelung Männer gehabt, die mit hellem Blick die Bedeutung der Gegenwart erkannten, ſie haben auch für die anderen Völker gedacht und geſchaffen, ihre Ueberlieferungen geordnet, ihren geſchichtlichen Beruf ihnen gedeutet. Gewiß haben wir alſo ein gutes Recht, ſie trotz ihrer Schwächen auch auf dem Gebiete der Geſchichte als ein hervorragend begabtes Volk anzuſehen, und den mancherlei Verirrungen gegenüber, welche auch in neuſter Zeit auftauchen, indem man die Geſchichte der Menſchheit als einen Tummelplatz blinder Naturgewalten dar¬ ſtellen und ſolche Betrachtungsweiſen einführen will, bei welchen man ſich von der irrigen Annahme eines freien Menſchen¬ willens und einer göttlichen Weltregierung losmachen ſoll, haben uns die Hellenen ein Vorbild gegeben, wie wir in der Geſchichte das Walten ſittlicher Mächte und die Offenbarung eines göttlichen Willens zu erkennen haben. Sie haben der hiſtoriſchen Forſchung die Weihe gegeben, welche zu erhalten unſere Aufgabe iſt.
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Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
hatte, durchführte, da waren es wiederum nicht Römer, ſon¬
dern Griechen, welche den neuen, Standpunkt der Geſchichte
auch in der Wiſſenſchaft geltend machten. Dionyſios durch¬
forſchte die römiſche Vorzeit, um ſeinen Landsleuten die Römer
als ein ebenbürtiges und ſtammverwandtes Volk darzuſtellen.
Diodoros faßte die Geſchichte aller Völker zuſammen, welche
Rom als Erbſchaft untergegangener Reiche beherrſchte, und
Strabon entwarf ſein großes Weltgemälde, mit philoſo¬
phiſchem Geiſte das Ganze umfaſſend und zugleich mit
hiſtoriſcher Gelehrſamkeit das Einzelne durchdringend.
So kommen wir zu dem Schluſſe, daß die Hiſtorie mit
Recht ihren griechiſchen Namen trägt. Bei den Griechen iſt
ſie als Wiſſenſchaft zu Hauſe; ſie haben Erd- und Völkerkunde
mit Staatengeſchichte, Ethik mit Politik in die fruchtbarſte
Verbindung geſetzt; ſie haben nicht eine Philoſophie der Ge¬
ſchichte als beſondere Wiſſenſchaft, ſondern die Geſchichte ſelbſt
mit philoſophiſchem Geiſte als eine ethiſche Wiſſenſchaft ge¬
gründet. Sie haben bei allen Wendepunkten der Volksent¬
wickelung Männer gehabt, die mit hellem Blick die Bedeutung
der Gegenwart erkannten, ſie haben auch für die anderen
Völker gedacht und geſchaffen, ihre Ueberlieferungen geordnet,
ihren geſchichtlichen Beruf ihnen gedeutet. Gewiß haben wir
alſo ein gutes Recht, ſie trotz ihrer Schwächen auch auf dem
Gebiete der Geſchichte als ein hervorragend begabtes Volk
anzuſehen, und den mancherlei Verirrungen gegenüber, welche
auch in neuſter Zeit auftauchen, indem man die Geſchichte der
Menſchheit als einen Tummelplatz blinder Naturgewalten dar¬
ſtellen und ſolche Betrachtungsweiſen einführen will, bei welchen
man ſich von der irrigen Annahme eines freien Menſchen¬
willens und einer göttlichen Weltregierung losmachen ſoll,
haben uns die Hellenen ein Vorbild gegeben, wie wir in der
Geſchichte das Walten ſittlicher Mächte und die Offenbarung
eines göttlichen Willens zu erkennen haben. Sie haben der
hiſtoriſchen Forſchung die Weihe gegeben, welche zu erhalten
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/302>, abgerufen am 22.07.2024.
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