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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Wort und Schrift.
zu werden; Pindar schickt, wenn er nicht selbst die jugendlichen
Chöre einüben kann, seinen Preisgesang nicht als todte Schrift
über das Meer, sondern sein Sangmeister überbringt ihn, als
ein lebendiger "Briefstab der Musen". Selbst der älteren
Geschichtschreibung wird ja der Vorwurf gemacht, daß man
ihr das Streben, ein hörendes Publikum zu fesseln, zu sehr
anmerke. Herodot's Erzählungen wurden von Schauspielern
vorgetragen, und selbst die gedankenschweren Gedichte der
Philosophen, wie Empedokles und Xenophanes, lebten im
Munde von Rhapsoden.

Wir, die wir von Kindheit auf an das Lesen gewöhnt
sind, übersetzen mit unbewußter Fertigkeit den tonlosen Buch¬
staben in die Laute der Sprache und erwecken das todte Wort
zu neuem Leben, wie der Musikkenner beim Lesen einer Par¬
titur die Harmonieen hört und der Naturforscher in der ge¬
trockneten Pflanze die auf dem Felde blühende vor Augen hat.
Aber drängt es nicht auch uns, solche Dichterworte, die uns
besonders ergreifen, selbst wenn wir allein sind, laut zu sprechen,
und erkennen wir nicht dadurch an, daß das stumme Lesen
nur ein Nothbehelf ist? Fühlen nicht auch wir die volle Wir¬
kung eines Dichterwerks erst dann, wenn es uns als ein
Ganzes vorgetragen wird, wenn wir nicht, wie beim Lesen
geschieht, am Einzelnen prüfend verweilen oder verwandten
Gedankenverbindungen nachgehen, sondern, von der lebendigen
Kraft des Wortes fortgezogen, uns dem Eindrucke des Ganzen
völlig hingeben? Je lebhafter ein Mensch für Poesie empfindet,
um so höher steht ihm ohne Zweifel das lebendige Wort, um
so leichter wird er sich den Standpunkt der Griechen zu eigen
machen, bei denen die Kunst nicht ein äußerlicher Schmuck,
sondern ein so wesentliches Element des Lebens war, daß sie
ihr ein Maß von Ernst, Kraft und Zeit zuwendeten, wovon
wir uns kaum einen Begriff machen können. Bei uns ist es
ja ein Vorzug höherer Bildung und Wohlhabenheit, an den
Genüssen, welche die Kunst darbietet, Theil nehmen zu können;
bei den Griechen war sie es, welche das religiöse Bewußtsein
des Volks trug und leitete, welche den Festen bürgerlicher

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Wort und Schrift.
zu werden; Pindar ſchickt, wenn er nicht ſelbſt die jugendlichen
Chöre einüben kann, ſeinen Preisgeſang nicht als todte Schrift
über das Meer, ſondern ſein Sangmeiſter überbringt ihn, als
ein lebendiger »Briefſtab der Muſen«. Selbſt der älteren
Geſchichtſchreibung wird ja der Vorwurf gemacht, daß man
ihr das Streben, ein hörendes Publikum zu feſſeln, zu ſehr
anmerke. Herodot's Erzählungen wurden von Schauſpielern
vorgetragen, und ſelbſt die gedankenſchweren Gedichte der
Philoſophen, wie Empedokles und Xenophanes, lebten im
Munde von Rhapſoden.

Wir, die wir von Kindheit auf an das Leſen gewöhnt
ſind, überſetzen mit unbewußter Fertigkeit den tonloſen Buch¬
ſtaben in die Laute der Sprache und erwecken das todte Wort
zu neuem Leben, wie der Muſikkenner beim Leſen einer Par¬
titur die Harmonieen hört und der Naturforſcher in der ge¬
trockneten Pflanze die auf dem Felde blühende vor Augen hat.
Aber drängt es nicht auch uns, ſolche Dichterworte, die uns
beſonders ergreifen, ſelbſt wenn wir allein ſind, laut zu ſprechen,
und erkennen wir nicht dadurch an, daß das ſtumme Leſen
nur ein Nothbehelf iſt? Fühlen nicht auch wir die volle Wir¬
kung eines Dichterwerks erſt dann, wenn es uns als ein
Ganzes vorgetragen wird, wenn wir nicht, wie beim Leſen
geſchieht, am Einzelnen prüfend verweilen oder verwandten
Gedankenverbindungen nachgehen, ſondern, von der lebendigen
Kraft des Wortes fortgezogen, uns dem Eindrucke des Ganzen
völlig hingeben? Je lebhafter ein Menſch für Poeſie empfindet,
um ſo höher ſteht ihm ohne Zweifel das lebendige Wort, um
ſo leichter wird er ſich den Standpunkt der Griechen zu eigen
machen, bei denen die Kunſt nicht ein äußerlicher Schmuck,
ſondern ein ſo weſentliches Element des Lebens war, daß ſie
ihr ein Maß von Ernſt, Kraft und Zeit zuwendeten, wovon
wir uns kaum einen Begriff machen können. Bei uns iſt es
ja ein Vorzug höherer Bildung und Wohlhabenheit, an den
Genüſſen, welche die Kunſt darbietet, Theil nehmen zu können;
bei den Griechen war ſie es, welche das religiöſe Bewußtſein
des Volks trug und leitete, welche den Feſten bürgerlicher

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[259/0275] Wort und Schrift. zu werden; Pindar ſchickt, wenn er nicht ſelbſt die jugendlichen Chöre einüben kann, ſeinen Preisgeſang nicht als todte Schrift über das Meer, ſondern ſein Sangmeiſter überbringt ihn, als ein lebendiger »Briefſtab der Muſen«. Selbſt der älteren Geſchichtſchreibung wird ja der Vorwurf gemacht, daß man ihr das Streben, ein hörendes Publikum zu feſſeln, zu ſehr anmerke. Herodot's Erzählungen wurden von Schauſpielern vorgetragen, und ſelbſt die gedankenſchweren Gedichte der Philoſophen, wie Empedokles und Xenophanes, lebten im Munde von Rhapſoden. Wir, die wir von Kindheit auf an das Leſen gewöhnt ſind, überſetzen mit unbewußter Fertigkeit den tonloſen Buch¬ ſtaben in die Laute der Sprache und erwecken das todte Wort zu neuem Leben, wie der Muſikkenner beim Leſen einer Par¬ titur die Harmonieen hört und der Naturforſcher in der ge¬ trockneten Pflanze die auf dem Felde blühende vor Augen hat. Aber drängt es nicht auch uns, ſolche Dichterworte, die uns beſonders ergreifen, ſelbſt wenn wir allein ſind, laut zu ſprechen, und erkennen wir nicht dadurch an, daß das ſtumme Leſen nur ein Nothbehelf iſt? Fühlen nicht auch wir die volle Wir¬ kung eines Dichterwerks erſt dann, wenn es uns als ein Ganzes vorgetragen wird, wenn wir nicht, wie beim Leſen geſchieht, am Einzelnen prüfend verweilen oder verwandten Gedankenverbindungen nachgehen, ſondern, von der lebendigen Kraft des Wortes fortgezogen, uns dem Eindrucke des Ganzen völlig hingeben? Je lebhafter ein Menſch für Poeſie empfindet, um ſo höher ſteht ihm ohne Zweifel das lebendige Wort, um ſo leichter wird er ſich den Standpunkt der Griechen zu eigen machen, bei denen die Kunſt nicht ein äußerlicher Schmuck, ſondern ein ſo weſentliches Element des Lebens war, daß ſie ihr ein Maß von Ernſt, Kraft und Zeit zuwendeten, wovon wir uns kaum einen Begriff machen können. Bei uns iſt es ja ein Vorzug höherer Bildung und Wohlhabenheit, an den Genüſſen, welche die Kunſt darbietet, Theil nehmen zu können; bei den Griechen war ſie es, welche das religiöſe Bewußtſein des Volks trug und leitete, welche den Feſten bürgerlicher 17*

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/275>, abgerufen am 23.11.2024.