Gemeinschaft Weihe und Bedeutung gab und die Menschen durch alle Lebensverhältnisse begleitete. Wie viel weniger konnten sich die Griechen an dem Nothbehelfe der Schrift ge¬ nügen lassen!
Und dann, wie viel mehr ging den Hellenen verloren, wenn ihnen ein Dichterwerk geschrieben vorlag, als uns, da sich die moderne Poesie von den verschwisterten Künsten immer mehr abgelöst hat! Die Meisterwerke unserer Dichter sind keiner wirkungsvolleren Reproduktion fähig, als daß sie, mit vollem Verständnisse gesprochen, an unser Ohr gelangen, und wie selten haben die darstellenden Künstler ein solches Maß von Anlage und Bildung, um unsern Ansprüchen zu genügen! Die neuere Kunst ist geistiger; ihr Genuß ist von allen äuße¬ ren Mitteln unabhängiger, aber freilich auch beschränkter und unvollständiger. Die griechische Poesie konnte als geschriebenes Wort gar nicht gewürdigt werden. Lied und Gesang waren Eins; der Rhythmus, der mit dem Inhalte zusammenhing wie Leib und Seele, konnte in seiner reichen Mannigfaltigkeit, dem Ausdrucke wogender Empfindung, ohne künstlerischen Vor¬ trag nicht verstanden werden; der Tanz trat dazu, um die innere Bewegung plastisch darzustellen; die edelsten Kunstwerke kamen in festlicher Gemeinschaft zur Aufführung, wodurch die begeisternde Wirkung vollendet wurde.
Etwas Anderes ist es freilich mit den Werken, welche nicht auf künstlerischen Vortrag berechnet und nicht an die versam¬ melte Bürgergemeinde gerichtet sind, sondern an den Einzelnen, welchen sie belehren wollen; sie setzen einen ausgedehnten Schriftgebrauch und ein lesendes Publikum voraus. Aber wie spät hat sich auch die prosaische Litteratur bei den Griechen entwickelt, wie langsam entfernte sie sich von dem Charakter der poetischen Darstellung! Selbst die Philosophie, welche doch mehr als alle anderen Wissenschaften in das Bewußtsein des Einzelnen einzudringen sucht und sich ihrer Natur nach von der Oeffentlichkeit zurückzieht, wie lange sträubte sie sich da¬ gegen, Schriftweisheit zu werden! Das fühlen wir vor Allen Platon an, in welchem der hellenische Sinn für den Genuß
Wort und Schrift.
Gemeinſchaft Weihe und Bedeutung gab und die Menſchen durch alle Lebensverhältniſſe begleitete. Wie viel weniger konnten ſich die Griechen an dem Nothbehelfe der Schrift ge¬ nügen laſſen!
Und dann, wie viel mehr ging den Hellenen verloren, wenn ihnen ein Dichterwerk geſchrieben vorlag, als uns, da ſich die moderne Poeſie von den verſchwiſterten Künſten immer mehr abgelöſt hat! Die Meiſterwerke unſerer Dichter ſind keiner wirkungsvolleren Reproduktion fähig, als daß ſie, mit vollem Verſtändniſſe geſprochen, an unſer Ohr gelangen, und wie ſelten haben die darſtellenden Künſtler ein ſolches Maß von Anlage und Bildung, um unſern Anſprüchen zu genügen! Die neuere Kunſt iſt geiſtiger; ihr Genuß iſt von allen äuße¬ ren Mitteln unabhängiger, aber freilich auch beſchränkter und unvollſtändiger. Die griechiſche Poeſie konnte als geſchriebenes Wort gar nicht gewürdigt werden. Lied und Geſang waren Eins; der Rhythmus, der mit dem Inhalte zuſammenhing wie Leib und Seele, konnte in ſeiner reichen Mannigfaltigkeit, dem Ausdrucke wogender Empfindung, ohne künſtleriſchen Vor¬ trag nicht verſtanden werden; der Tanz trat dazu, um die innere Bewegung plaſtiſch darzuſtellen; die edelſten Kunſtwerke kamen in feſtlicher Gemeinſchaft zur Aufführung, wodurch die begeiſternde Wirkung vollendet wurde.
Etwas Anderes iſt es freilich mit den Werken, welche nicht auf künſtleriſchen Vortrag berechnet und nicht an die verſam¬ melte Bürgergemeinde gerichtet ſind, ſondern an den Einzelnen, welchen ſie belehren wollen; ſie ſetzen einen ausgedehnten Schriftgebrauch und ein leſendes Publikum voraus. Aber wie ſpät hat ſich auch die proſaiſche Litteratur bei den Griechen entwickelt, wie langſam entfernte ſie ſich von dem Charakter der poetiſchen Darſtellung! Selbſt die Philoſophie, welche doch mehr als alle anderen Wiſſenſchaften in das Bewußtſein des Einzelnen einzudringen ſucht und ſich ihrer Natur nach von der Oeffentlichkeit zurückzieht, wie lange ſträubte ſie ſich da¬ gegen, Schriftweisheit zu werden! Das fühlen wir vor Allen Platon an, in welchem der helleniſche Sinn für den Genuß
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Wort und Schrift.
Gemeinſchaft Weihe und Bedeutung gab und die Menſchen
durch alle Lebensverhältniſſe begleitete. Wie viel weniger
konnten ſich die Griechen an dem Nothbehelfe der Schrift ge¬
nügen laſſen!
Und dann, wie viel mehr ging den Hellenen verloren,
wenn ihnen ein Dichterwerk geſchrieben vorlag, als uns, da
ſich die moderne Poeſie von den verſchwiſterten Künſten immer
mehr abgelöſt hat! Die Meiſterwerke unſerer Dichter ſind
keiner wirkungsvolleren Reproduktion fähig, als daß ſie, mit
vollem Verſtändniſſe geſprochen, an unſer Ohr gelangen, und
wie ſelten haben die darſtellenden Künſtler ein ſolches Maß
von Anlage und Bildung, um unſern Anſprüchen zu genügen!
Die neuere Kunſt iſt geiſtiger; ihr Genuß iſt von allen äuße¬
ren Mitteln unabhängiger, aber freilich auch beſchränkter und
unvollſtändiger. Die griechiſche Poeſie konnte als geſchriebenes
Wort gar nicht gewürdigt werden. Lied und Geſang waren
Eins; der Rhythmus, der mit dem Inhalte zuſammenhing
wie Leib und Seele, konnte in ſeiner reichen Mannigfaltigkeit,
dem Ausdrucke wogender Empfindung, ohne künſtleriſchen Vor¬
trag nicht verſtanden werden; der Tanz trat dazu, um die
innere Bewegung plaſtiſch darzuſtellen; die edelſten Kunſtwerke
kamen in feſtlicher Gemeinſchaft zur Aufführung, wodurch die
begeiſternde Wirkung vollendet wurde.
Etwas Anderes iſt es freilich mit den Werken, welche nicht
auf künſtleriſchen Vortrag berechnet und nicht an die verſam¬
melte Bürgergemeinde gerichtet ſind, ſondern an den Einzelnen,
welchen ſie belehren wollen; ſie ſetzen einen ausgedehnten
Schriftgebrauch und ein leſendes Publikum voraus. Aber wie
ſpät hat ſich auch die proſaiſche Litteratur bei den Griechen
entwickelt, wie langſam entfernte ſie ſich von dem Charakter
der poetiſchen Darſtellung! Selbſt die Philoſophie, welche doch
mehr als alle anderen Wiſſenſchaften in das Bewußtſein des
Einzelnen einzudringen ſucht und ſich ihrer Natur nach von
der Oeffentlichkeit zurückzieht, wie lange ſträubte ſie ſich da¬
gegen, Schriftweisheit zu werden! Das fühlen wir vor Allen
Platon an, in welchem der helleniſche Sinn für den Genuß
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/276>, abgerufen am 22.07.2024.
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