Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Wort und Schrift. darnach zu richten; also auch er war wesentlich ein Schrift¬gelehrter und Gesetzkundiger. Erst wenn er eine bestimmte Zahl von Tagen die vorgezeichnete Kur ohne Erfolg ange¬ wendet hatte, durfte er nach eigenem Ermessen verfahren; that er es früher, so geschah es auf seine Gefahr. Die Griechen machten sich auch hier nicht zum Sklaven des Buchstabens, sondern behandelten die Medicin als eine freie Wissenschaft, als eine persönliche Kunst, und die Gegner des Verfassungs¬ staats konnten sich darauf berufen, daß ein Regieren nach Gesetzesparagraphen eben so unthunlich sei und eben so wenig Vertrauen erwecke, wie ein Heilverfahren nach schriftlichen Regeln; eine Analogie, welche Aristoteles mit vollem Rechte zurückweist, weil bei dem Arzte nicht leicht vorausgesetzt werde, daß sein Verfahren unter dem Einflusse persönlicher Absichten und Stimmungen stehe; bei einem Herrscher sei es aber anders. Wenn wir so auf dem Gebiete der Religion, des Staats¬ Wort und Schrift. darnach zu richten; alſo auch er war weſentlich ein Schrift¬gelehrter und Geſetzkundiger. Erſt wenn er eine beſtimmte Zahl von Tagen die vorgezeichnete Kur ohne Erfolg ange¬ wendet hatte, durfte er nach eigenem Ermeſſen verfahren; that er es früher, ſo geſchah es auf ſeine Gefahr. Die Griechen machten ſich auch hier nicht zum Sklaven des Buchſtabens, ſondern behandelten die Medicin als eine freie Wiſſenſchaft, als eine perſönliche Kunſt, und die Gegner des Verfaſſungs¬ ſtaats konnten ſich darauf berufen, daß ein Regieren nach Geſetzesparagraphen eben ſo unthunlich ſei und eben ſo wenig Vertrauen erwecke, wie ein Heilverfahren nach ſchriftlichen Regeln; eine Analogie, welche Ariſtoteles mit vollem Rechte zurückweiſt, weil bei dem Arzte nicht leicht vorausgeſetzt werde, daß ſein Verfahren unter dem Einfluſſe perſönlicher Abſichten und Stimmungen ſtehe; bei einem Herrſcher ſei es aber anders. Wenn wir ſo auf dem Gebiete der Religion, des Staats¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0274" n="258"/><fw place="top" type="header">Wort und Schrift.<lb/></fw> darnach zu richten; alſo auch er war weſentlich ein Schrift¬<lb/> gelehrter und Geſetzkundiger. Erſt wenn er eine beſtimmte<lb/> Zahl von Tagen die vorgezeichnete Kur ohne Erfolg ange¬<lb/> wendet hatte, durfte er nach eigenem Ermeſſen verfahren; that<lb/> er es früher, ſo geſchah es auf ſeine Gefahr. Die Griechen<lb/> machten ſich auch hier nicht zum Sklaven des Buchſtabens,<lb/> ſondern behandelten die Medicin als eine freie Wiſſenſchaft,<lb/> als eine perſönliche Kunſt, und die Gegner des Verfaſſungs¬<lb/> ſtaats konnten ſich darauf berufen, daß ein Regieren nach<lb/> Geſetzesparagraphen eben ſo unthunlich ſei und eben ſo wenig<lb/> Vertrauen erwecke, wie ein Heilverfahren nach ſchriftlichen<lb/> Regeln; eine Analogie, welche Ariſtoteles mit vollem Rechte<lb/> zurückweiſt, weil bei dem Arzte nicht leicht vorausgeſetzt werde,<lb/> daß ſein Verfahren unter dem Einfluſſe perſönlicher Abſichten<lb/> und Stimmungen ſtehe; bei einem Herrſcher ſei es aber anders.<lb/></p> <p>Wenn wir ſo auf dem Gebiete der Religion, des Staats¬<lb/> lebens und der Erfahrungswiſſenſchaften bei den Griechen eine<lb/> unverkennbare Abneigung gegen eine ausgedehntere Anwendung<lb/> der Schrift und jede Autorität derſelben finden, ſo kann es<lb/> noch weniger überraſchen, wenn wir daſſelbe auf dem Gebiete<lb/> der freiſten, geiſtigen Thätigkeit, des künſtleriſchen Schaffens<lb/> wahrnehmen. Dieſe Thatſache iſt, weil ſie den Schlüſſel zum<lb/> Verſtändniß der griechiſchen Litteratur giebt, am gründlichſten<lb/> beſprochen; ſie iſt für Alle, die ſehen wollen, auf das Klarſte<lb/> erwieſen. Was aber gegen die Annahme, daß große Helden¬<lb/> geſänge ohne Schrift entſtehen und ohne Schrift Jahrhunderte<lb/> lang im Munde des Volkes ſich erhalten können, an Bedenk¬<lb/> lichkeiten laut geworden iſt, das wird durch die zahlreichen<lb/> und unzweifelhaften Analogieen anderer Litteraturen, welche<lb/> nach und nach bekannt geworden ſind, immer vollſtändiger<lb/> beſeitigt. Es handelt ſich hier aber nicht allein um das ho¬<lb/> meriſche Epos, ſondern alle Dichtung der Hellenen hat, wie<lb/> ſie aus der Liebe zu Geſpräch und Geſang hervorgegangen iſt,<lb/> dieſen Charakter perſönlicher Mittheilung immer behalten. Alle<lb/> Lieder, alle Dramen waren gemacht, um unter perſönlicher<lb/> Betheiligung des Dichters dem hörenden Volke vorgetragen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [258/0274]
Wort und Schrift.
darnach zu richten; alſo auch er war weſentlich ein Schrift¬
gelehrter und Geſetzkundiger. Erſt wenn er eine beſtimmte
Zahl von Tagen die vorgezeichnete Kur ohne Erfolg ange¬
wendet hatte, durfte er nach eigenem Ermeſſen verfahren; that
er es früher, ſo geſchah es auf ſeine Gefahr. Die Griechen
machten ſich auch hier nicht zum Sklaven des Buchſtabens,
ſondern behandelten die Medicin als eine freie Wiſſenſchaft,
als eine perſönliche Kunſt, und die Gegner des Verfaſſungs¬
ſtaats konnten ſich darauf berufen, daß ein Regieren nach
Geſetzesparagraphen eben ſo unthunlich ſei und eben ſo wenig
Vertrauen erwecke, wie ein Heilverfahren nach ſchriftlichen
Regeln; eine Analogie, welche Ariſtoteles mit vollem Rechte
zurückweiſt, weil bei dem Arzte nicht leicht vorausgeſetzt werde,
daß ſein Verfahren unter dem Einfluſſe perſönlicher Abſichten
und Stimmungen ſtehe; bei einem Herrſcher ſei es aber anders.
Wenn wir ſo auf dem Gebiete der Religion, des Staats¬
lebens und der Erfahrungswiſſenſchaften bei den Griechen eine
unverkennbare Abneigung gegen eine ausgedehntere Anwendung
der Schrift und jede Autorität derſelben finden, ſo kann es
noch weniger überraſchen, wenn wir daſſelbe auf dem Gebiete
der freiſten, geiſtigen Thätigkeit, des künſtleriſchen Schaffens
wahrnehmen. Dieſe Thatſache iſt, weil ſie den Schlüſſel zum
Verſtändniß der griechiſchen Litteratur giebt, am gründlichſten
beſprochen; ſie iſt für Alle, die ſehen wollen, auf das Klarſte
erwieſen. Was aber gegen die Annahme, daß große Helden¬
geſänge ohne Schrift entſtehen und ohne Schrift Jahrhunderte
lang im Munde des Volkes ſich erhalten können, an Bedenk¬
lichkeiten laut geworden iſt, das wird durch die zahlreichen
und unzweifelhaften Analogieen anderer Litteraturen, welche
nach und nach bekannt geworden ſind, immer vollſtändiger
beſeitigt. Es handelt ſich hier aber nicht allein um das ho¬
meriſche Epos, ſondern alle Dichtung der Hellenen hat, wie
ſie aus der Liebe zu Geſpräch und Geſang hervorgegangen iſt,
dieſen Charakter perſönlicher Mittheilung immer behalten. Alle
Lieder, alle Dramen waren gemacht, um unter perſönlicher
Betheiligung des Dichters dem hörenden Volke vorgetragen
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