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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Wort und Schrift.
darnach zu richten; also auch er war wesentlich ein Schrift¬
gelehrter und Gesetzkundiger. Erst wenn er eine bestimmte
Zahl von Tagen die vorgezeichnete Kur ohne Erfolg ange¬
wendet hatte, durfte er nach eigenem Ermessen verfahren; that
er es früher, so geschah es auf seine Gefahr. Die Griechen
machten sich auch hier nicht zum Sklaven des Buchstabens,
sondern behandelten die Medicin als eine freie Wissenschaft,
als eine persönliche Kunst, und die Gegner des Verfassungs¬
staats konnten sich darauf berufen, daß ein Regieren nach
Gesetzesparagraphen eben so unthunlich sei und eben so wenig
Vertrauen erwecke, wie ein Heilverfahren nach schriftlichen
Regeln; eine Analogie, welche Aristoteles mit vollem Rechte
zurückweist, weil bei dem Arzte nicht leicht vorausgesetzt werde,
daß sein Verfahren unter dem Einflusse persönlicher Absichten
und Stimmungen stehe; bei einem Herrscher sei es aber anders.

Wenn wir so auf dem Gebiete der Religion, des Staats¬
lebens und der Erfahrungswissenschaften bei den Griechen eine
unverkennbare Abneigung gegen eine ausgedehntere Anwendung
der Schrift und jede Autorität derselben finden, so kann es
noch weniger überraschen, wenn wir dasselbe auf dem Gebiete
der freisten, geistigen Thätigkeit, des künstlerischen Schaffens
wahrnehmen. Diese Thatsache ist, weil sie den Schlüssel zum
Verständniß der griechischen Litteratur giebt, am gründlichsten
besprochen; sie ist für Alle, die sehen wollen, auf das Klarste
erwiesen. Was aber gegen die Annahme, daß große Helden¬
gesänge ohne Schrift entstehen und ohne Schrift Jahrhunderte
lang im Munde des Volkes sich erhalten können, an Bedenk¬
lichkeiten laut geworden ist, das wird durch die zahlreichen
und unzweifelhaften Analogieen anderer Litteraturen, welche
nach und nach bekannt geworden sind, immer vollständiger
beseitigt. Es handelt sich hier aber nicht allein um das ho¬
merische Epos, sondern alle Dichtung der Hellenen hat, wie
sie aus der Liebe zu Gespräch und Gesang hervorgegangen ist,
diesen Charakter persönlicher Mittheilung immer behalten. Alle
Lieder, alle Dramen waren gemacht, um unter persönlicher
Betheiligung des Dichters dem hörenden Volke vorgetragen

Wort und Schrift.
darnach zu richten; alſo auch er war weſentlich ein Schrift¬
gelehrter und Geſetzkundiger. Erſt wenn er eine beſtimmte
Zahl von Tagen die vorgezeichnete Kur ohne Erfolg ange¬
wendet hatte, durfte er nach eigenem Ermeſſen verfahren; that
er es früher, ſo geſchah es auf ſeine Gefahr. Die Griechen
machten ſich auch hier nicht zum Sklaven des Buchſtabens,
ſondern behandelten die Medicin als eine freie Wiſſenſchaft,
als eine perſönliche Kunſt, und die Gegner des Verfaſſungs¬
ſtaats konnten ſich darauf berufen, daß ein Regieren nach
Geſetzesparagraphen eben ſo unthunlich ſei und eben ſo wenig
Vertrauen erwecke, wie ein Heilverfahren nach ſchriftlichen
Regeln; eine Analogie, welche Ariſtoteles mit vollem Rechte
zurückweiſt, weil bei dem Arzte nicht leicht vorausgeſetzt werde,
daß ſein Verfahren unter dem Einfluſſe perſönlicher Abſichten
und Stimmungen ſtehe; bei einem Herrſcher ſei es aber anders.

Wenn wir ſo auf dem Gebiete der Religion, des Staats¬
lebens und der Erfahrungswiſſenſchaften bei den Griechen eine
unverkennbare Abneigung gegen eine ausgedehntere Anwendung
der Schrift und jede Autorität derſelben finden, ſo kann es
noch weniger überraſchen, wenn wir daſſelbe auf dem Gebiete
der freiſten, geiſtigen Thätigkeit, des künſtleriſchen Schaffens
wahrnehmen. Dieſe Thatſache iſt, weil ſie den Schlüſſel zum
Verſtändniß der griechiſchen Litteratur giebt, am gründlichſten
beſprochen; ſie iſt für Alle, die ſehen wollen, auf das Klarſte
erwieſen. Was aber gegen die Annahme, daß große Helden¬
geſänge ohne Schrift entſtehen und ohne Schrift Jahrhunderte
lang im Munde des Volkes ſich erhalten können, an Bedenk¬
lichkeiten laut geworden iſt, das wird durch die zahlreichen
und unzweifelhaften Analogieen anderer Litteraturen, welche
nach und nach bekannt geworden ſind, immer vollſtändiger
beſeitigt. Es handelt ſich hier aber nicht allein um das ho¬
meriſche Epos, ſondern alle Dichtung der Hellenen hat, wie
ſie aus der Liebe zu Geſpräch und Geſang hervorgegangen iſt,
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Lieder, alle Dramen waren gemacht, um unter perſönlicher
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[258/0274] Wort und Schrift. darnach zu richten; alſo auch er war weſentlich ein Schrift¬ gelehrter und Geſetzkundiger. Erſt wenn er eine beſtimmte Zahl von Tagen die vorgezeichnete Kur ohne Erfolg ange¬ wendet hatte, durfte er nach eigenem Ermeſſen verfahren; that er es früher, ſo geſchah es auf ſeine Gefahr. Die Griechen machten ſich auch hier nicht zum Sklaven des Buchſtabens, ſondern behandelten die Medicin als eine freie Wiſſenſchaft, als eine perſönliche Kunſt, und die Gegner des Verfaſſungs¬ ſtaats konnten ſich darauf berufen, daß ein Regieren nach Geſetzesparagraphen eben ſo unthunlich ſei und eben ſo wenig Vertrauen erwecke, wie ein Heilverfahren nach ſchriftlichen Regeln; eine Analogie, welche Ariſtoteles mit vollem Rechte zurückweiſt, weil bei dem Arzte nicht leicht vorausgeſetzt werde, daß ſein Verfahren unter dem Einfluſſe perſönlicher Abſichten und Stimmungen ſtehe; bei einem Herrſcher ſei es aber anders. Wenn wir ſo auf dem Gebiete der Religion, des Staats¬ lebens und der Erfahrungswiſſenſchaften bei den Griechen eine unverkennbare Abneigung gegen eine ausgedehntere Anwendung der Schrift und jede Autorität derſelben finden, ſo kann es noch weniger überraſchen, wenn wir daſſelbe auf dem Gebiete der freiſten, geiſtigen Thätigkeit, des künſtleriſchen Schaffens wahrnehmen. Dieſe Thatſache iſt, weil ſie den Schlüſſel zum Verſtändniß der griechiſchen Litteratur giebt, am gründlichſten beſprochen; ſie iſt für Alle, die ſehen wollen, auf das Klarſte erwieſen. Was aber gegen die Annahme, daß große Helden¬ geſänge ohne Schrift entſtehen und ohne Schrift Jahrhunderte lang im Munde des Volkes ſich erhalten können, an Bedenk¬ lichkeiten laut geworden iſt, das wird durch die zahlreichen und unzweifelhaften Analogieen anderer Litteraturen, welche nach und nach bekannt geworden ſind, immer vollſtändiger beſeitigt. Es handelt ſich hier aber nicht allein um das ho¬ meriſche Epos, ſondern alle Dichtung der Hellenen hat, wie ſie aus der Liebe zu Geſpräch und Geſang hervorgegangen iſt, dieſen Charakter perſönlicher Mittheilung immer behalten. Alle Lieder, alle Dramen waren gemacht, um unter perſönlicher Betheiligung des Dichters dem hörenden Volke vorgetragen

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/274>, abgerufen am 23.11.2024.