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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Idee der Unsterblichkeit bei den Alten.
die Erweiterung und Vertiefung ihres religiösen Bewußtseins
und für die Befruchtung ihrer Kunst, der bildenden Kunst so
wohl wie der Poesie; sie haben endlich mit der ihnen eigenen
Denkkraft den Inhalt dieses Glaubens auch wissenschaftlich zu
ergreifen und als den Bestandtheil einer in sich zusammen¬
hängenden Weisheitslehre sich zu einem festen geistigen Besitz¬
thume zu machen gesucht.

In Ionien, wo die homerischen Vorstellungen zu Hause
waren, lernte man Leib und Seele unterscheiden, aber nur
zaghaft löste man das Geistige vom Stofflichen, weil die im
Sinnlichen befangenen Ionier sich schwer entwöhnen konnten,
im Sichtbaren die Wirklichkeit zu erkennen. Anaxagoras fand
den Geist, aber nicht als einen persönlichen, und darum konnte
er dem Unsterblichkeitsbedürfnisse keine Bürgschaften geben. An
der entgegengesetzten Seite der griechischen Welt, im griechi¬
schen Italien, entwickelte sich zuerst eine Philosophie, welche
den Gegensatz homerischer Lebensanschauung zu voller Geltung
brachte. Denn während bei Homer das wahre Ich des Men¬
schen der Leib und der leibhafte Mensch allein die volle Per¬
sönlichkeit ist, so faßten die Pythagoreer im Anschlusse an die
Mysterien die Seele als das Wesentliche im Menschen auf,
als die sich selbst bewegende und frei bestimmende Einheit;
der Körper ist ihr nicht nur ein Fremdes, sondern auch eine
Fessel, eine Kerkerhöhle, ein Grab; das diesseitige Leben ist
ein Leben im Grabe, das jenseitige das wahre Sein in Licht
und Freiheit.

Von den Anregungen der ionischen und italischen Philosophie
befruchtet, wurde Athen der Boden, auf welchem auch dieser
Zweig der Erkenntniß zu seiner Blüthe gelangte und Früchte
trug, an denen auch unser Glaube sich stärken und nähren
kann. Sokrates schöpfte nicht, wie etwa die Pythagoreer, aus
den Lehren auswärtiger Weisheit; er hielt an den Thatsachen
seines sittlichen Bewußtseins fest, in denen er sich mit der Volks¬
religion im Einklange fühlte. Ueberzeugt von der Fortdauer
der Menschenseele in einem durch ihr irdisches Verhalten be¬
dingten Zustande, ging er aus freiem Entschlusse und mit

Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.
die Erweiterung und Vertiefung ihres religiöſen Bewußtſeins
und für die Befruchtung ihrer Kunſt, der bildenden Kunſt ſo
wohl wie der Poeſie; ſie haben endlich mit der ihnen eigenen
Denkkraft den Inhalt dieſes Glaubens auch wiſſenſchaftlich zu
ergreifen und als den Beſtandtheil einer in ſich zuſammen¬
hängenden Weisheitslehre ſich zu einem feſten geiſtigen Beſitz¬
thume zu machen geſucht.

In Ionien, wo die homeriſchen Vorſtellungen zu Hauſe
waren, lernte man Leib und Seele unterſcheiden, aber nur
zaghaft löſte man das Geiſtige vom Stofflichen, weil die im
Sinnlichen befangenen Ionier ſich ſchwer entwöhnen konnten,
im Sichtbaren die Wirklichkeit zu erkennen. Anaxagoras fand
den Geiſt, aber nicht als einen perſönlichen, und darum konnte
er dem Unſterblichkeitsbedürfniſſe keine Bürgſchaften geben. An
der entgegengeſetzten Seite der griechiſchen Welt, im griechi¬
ſchen Italien, entwickelte ſich zuerſt eine Philoſophie, welche
den Gegenſatz homeriſcher Lebensanſchauung zu voller Geltung
brachte. Denn während bei Homer das wahre Ich des Men¬
ſchen der Leib und der leibhafte Menſch allein die volle Per¬
ſönlichkeit iſt, ſo faßten die Pythagoreer im Anſchluſſe an die
Myſterien die Seele als das Weſentliche im Menſchen auf,
als die ſich ſelbſt bewegende und frei beſtimmende Einheit;
der Körper iſt ihr nicht nur ein Fremdes, ſondern auch eine
Feſſel, eine Kerkerhöhle, ein Grab; das dieſſeitige Leben iſt
ein Leben im Grabe, das jenſeitige das wahre Sein in Licht
und Freiheit.

Von den Anregungen der ioniſchen und italiſchen Philoſophie
befruchtet, wurde Athen der Boden, auf welchem auch dieſer
Zweig der Erkenntniß zu ſeiner Blüthe gelangte und Früchte
trug, an denen auch unſer Glaube ſich ſtärken und nähren
kann. Sokrates ſchöpfte nicht, wie etwa die Pythagoreer, aus
den Lehren auswärtiger Weisheit; er hielt an den Thatſachen
ſeines ſittlichen Bewußtſeins feſt, in denen er ſich mit der Volks¬
religion im Einklange fühlte. Ueberzeugt von der Fortdauer
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[233/0249] Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. die Erweiterung und Vertiefung ihres religiöſen Bewußtſeins und für die Befruchtung ihrer Kunſt, der bildenden Kunſt ſo wohl wie der Poeſie; ſie haben endlich mit der ihnen eigenen Denkkraft den Inhalt dieſes Glaubens auch wiſſenſchaftlich zu ergreifen und als den Beſtandtheil einer in ſich zuſammen¬ hängenden Weisheitslehre ſich zu einem feſten geiſtigen Beſitz¬ thume zu machen geſucht. In Ionien, wo die homeriſchen Vorſtellungen zu Hauſe waren, lernte man Leib und Seele unterſcheiden, aber nur zaghaft löſte man das Geiſtige vom Stofflichen, weil die im Sinnlichen befangenen Ionier ſich ſchwer entwöhnen konnten, im Sichtbaren die Wirklichkeit zu erkennen. Anaxagoras fand den Geiſt, aber nicht als einen perſönlichen, und darum konnte er dem Unſterblichkeitsbedürfniſſe keine Bürgſchaften geben. An der entgegengeſetzten Seite der griechiſchen Welt, im griechi¬ ſchen Italien, entwickelte ſich zuerſt eine Philoſophie, welche den Gegenſatz homeriſcher Lebensanſchauung zu voller Geltung brachte. Denn während bei Homer das wahre Ich des Men¬ ſchen der Leib und der leibhafte Menſch allein die volle Per¬ ſönlichkeit iſt, ſo faßten die Pythagoreer im Anſchluſſe an die Myſterien die Seele als das Weſentliche im Menſchen auf, als die ſich ſelbſt bewegende und frei beſtimmende Einheit; der Körper iſt ihr nicht nur ein Fremdes, ſondern auch eine Feſſel, eine Kerkerhöhle, ein Grab; das dieſſeitige Leben iſt ein Leben im Grabe, das jenſeitige das wahre Sein in Licht und Freiheit. Von den Anregungen der ioniſchen und italiſchen Philoſophie befruchtet, wurde Athen der Boden, auf welchem auch dieſer Zweig der Erkenntniß zu ſeiner Blüthe gelangte und Früchte trug, an denen auch unſer Glaube ſich ſtärken und nähren kann. Sokrates ſchöpfte nicht, wie etwa die Pythagoreer, aus den Lehren auswärtiger Weisheit; er hielt an den Thatſachen ſeines ſittlichen Bewußtſeins feſt, in denen er ſich mit der Volks¬ religion im Einklange fühlte. Ueberzeugt von der Fortdauer der Menſchenſeele in einem durch ihr irdiſches Verhalten be¬ dingten Zuſtande, ging er aus freiem Entſchluſſe und mit

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/249>, abgerufen am 23.11.2024.