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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Idee der Unsterblichkeit bei den Alten.
haben sich selbst als Schüler der Aegypter auf diesem Gebiete
bekannt. Später forschten sie sorgfältig nach, bei welchen
Völkern doch wohl zuerst die Unsterblichkeit gelehrt worden
sei; man wollte die Urquelle des gemeinsamen Glaubens auf¬
finden, man ging auf die Chaldäer und auf die Inder zurück;
man wandte sich endlich auch zu den Völkern des Nordens,
welche man sonst als Barbaren verachtete. Denn je mehr sich
die Hellenen von ihrer eigenen Bildung übersättigt fühlten,
um so mehr singen sie an die freien Naturvölker in ihren ge¬
sunden Lebensverhältnissen und ihrer einfachen Frömmigkeit
zu bewundern. Und da konnte ihnen nichts merkwürdiger sein,
als daß sie den Unsterblichkeitsglauben, welchen sie als einen
besonderen Schatz der weisesten Schriftvölker angesehen hatten,
in der Ueberlieferung einfacher Naturvölker wiederfanden. Ein
solches Volk waren die Geten in Thracien, von denen unsere
Betrachtung ausging, ein Volk, welches auch den Römern von
ihren Dichtern als ein Vorbild hingestellt wurde. Sie lebten
und starben für den Glauben, daß die Seelen der Tapferen
zu dem Gotte ihrer Väter versammelt würden, wie die der
nordischen Völker zu Odinn heimfahren. Dieselbe Vor¬
stellung findet sich auch in den Veden, und wenn sich auch sonst
von den Geten nachweisen läßt, daß sie mit den Indern ganz
bestimmte Gebräuche theilen, wie z. B. das Opfern der Frau
auf dem Grabe des Gatten, so dürfen wir wohl nicht zweifeln,
daß auch ihr Unsterblichkeitsglaube zu jenem Erbtheile gehört,
welches sie aus dem gemeinsamen Vaterhause mitgebracht und
vor allen anderen mit besonderer Treue gehütet haben.

Zu einem solchen Aufbewahren des Ueberlieferten war ein
Volk wie das der Hellenen nicht gemacht; sie haben bei ihrem
vielbewegten Geistesleben und der Unruhe ihrer geschichtlichen
Entwickelung den gemeinsamen Glauben mehr als die ver¬
wandten Völker sich entschwinden lassen, aber sie haben doch
nicht ohne ihn leben können; sie haben ihn aus eigenen und
fremden Ueberlieferungen immer wieder hervorgesucht, sie haben
ihn, wie wir gesehen haben, für ihr gesamtes Volksleben
verwerthet, für die Befestigung von Staat und Familie, für

Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.
haben ſich ſelbſt als Schüler der Aegypter auf dieſem Gebiete
bekannt. Später forſchten ſie ſorgfältig nach, bei welchen
Völkern doch wohl zuerſt die Unſterblichkeit gelehrt worden
ſei; man wollte die Urquelle des gemeinſamen Glaubens auf¬
finden, man ging auf die Chaldäer und auf die Inder zurück;
man wandte ſich endlich auch zu den Völkern des Nordens,
welche man ſonſt als Barbaren verachtete. Denn je mehr ſich
die Hellenen von ihrer eigenen Bildung überſättigt fühlten,
um ſo mehr ſingen ſie an die freien Naturvölker in ihren ge¬
ſunden Lebensverhältniſſen und ihrer einfachen Frömmigkeit
zu bewundern. Und da konnte ihnen nichts merkwürdiger ſein,
als daß ſie den Unſterblichkeitsglauben, welchen ſie als einen
beſonderen Schatz der weiſeſten Schriftvölker angeſehen hatten,
in der Ueberlieferung einfacher Naturvölker wiederfanden. Ein
ſolches Volk waren die Geten in Thracien, von denen unſere
Betrachtung ausging, ein Volk, welches auch den Römern von
ihren Dichtern als ein Vorbild hingeſtellt wurde. Sie lebten
und ſtarben für den Glauben, daß die Seelen der Tapferen
zu dem Gotte ihrer Väter verſammelt würden, wie die der
nordiſchen Völker zu Odinn heimfahren. Dieſelbe Vor¬
ſtellung findet ſich auch in den Veden, und wenn ſich auch ſonſt
von den Geten nachweiſen läßt, daß ſie mit den Indern ganz
beſtimmte Gebräuche theilen, wie z. B. das Opfern der Frau
auf dem Grabe des Gatten, ſo dürfen wir wohl nicht zweifeln,
daß auch ihr Unſterblichkeitsglaube zu jenem Erbtheile gehört,
welches ſie aus dem gemeinſamen Vaterhauſe mitgebracht und
vor allen anderen mit beſonderer Treue gehütet haben.

Zu einem ſolchen Aufbewahren des Ueberlieferten war ein
Volk wie das der Hellenen nicht gemacht; ſie haben bei ihrem
vielbewegten Geiſtesleben und der Unruhe ihrer geſchichtlichen
Entwickelung den gemeinſamen Glauben mehr als die ver¬
wandten Völker ſich entſchwinden laſſen, aber ſie haben doch
nicht ohne ihn leben können; ſie haben ihn aus eigenen und
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[232/0248] Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. haben ſich ſelbſt als Schüler der Aegypter auf dieſem Gebiete bekannt. Später forſchten ſie ſorgfältig nach, bei welchen Völkern doch wohl zuerſt die Unſterblichkeit gelehrt worden ſei; man wollte die Urquelle des gemeinſamen Glaubens auf¬ finden, man ging auf die Chaldäer und auf die Inder zurück; man wandte ſich endlich auch zu den Völkern des Nordens, welche man ſonſt als Barbaren verachtete. Denn je mehr ſich die Hellenen von ihrer eigenen Bildung überſättigt fühlten, um ſo mehr ſingen ſie an die freien Naturvölker in ihren ge¬ ſunden Lebensverhältniſſen und ihrer einfachen Frömmigkeit zu bewundern. Und da konnte ihnen nichts merkwürdiger ſein, als daß ſie den Unſterblichkeitsglauben, welchen ſie als einen beſonderen Schatz der weiſeſten Schriftvölker angeſehen hatten, in der Ueberlieferung einfacher Naturvölker wiederfanden. Ein ſolches Volk waren die Geten in Thracien, von denen unſere Betrachtung ausging, ein Volk, welches auch den Römern von ihren Dichtern als ein Vorbild hingeſtellt wurde. Sie lebten und ſtarben für den Glauben, daß die Seelen der Tapferen zu dem Gotte ihrer Väter verſammelt würden, wie die der nordiſchen Völker zu Odinn heimfahren. Dieſelbe Vor¬ ſtellung findet ſich auch in den Veden, und wenn ſich auch ſonſt von den Geten nachweiſen läßt, daß ſie mit den Indern ganz beſtimmte Gebräuche theilen, wie z. B. das Opfern der Frau auf dem Grabe des Gatten, ſo dürfen wir wohl nicht zweifeln, daß auch ihr Unſterblichkeitsglaube zu jenem Erbtheile gehört, welches ſie aus dem gemeinſamen Vaterhauſe mitgebracht und vor allen anderen mit beſonderer Treue gehütet haben. Zu einem ſolchen Aufbewahren des Ueberlieferten war ein Volk wie das der Hellenen nicht gemacht; ſie haben bei ihrem vielbewegten Geiſtesleben und der Unruhe ihrer geſchichtlichen Entwickelung den gemeinſamen Glauben mehr als die ver¬ wandten Völker ſich entſchwinden laſſen, aber ſie haben doch nicht ohne ihn leben können; ſie haben ihn aus eigenen und fremden Ueberlieferungen immer wieder hervorgeſucht, ſie haben ihn, wie wir geſehen haben, für ihr geſamtes Volksleben verwerthet, für die Befeſtigung von Staat und Familie, für

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/248>, abgerufen am 24.11.2024.