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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Unfreiheit der alten Welt.
sich wie Tag und Nacht einander gegenüberstanden. Am Meer¬
busen von Neapel hatte Apollon seine Weissagestätten aufge¬
richtet, nördlich vom Tiberflusse herrschte die etruskische Mantik.
Gewiß stammt auch diese aus Vorderasien durch Vermittelung
griechischer Seevölker. Wie in den Götternamen und Sagen,
in den Grab- und Tempelformen, so läßt sich auch hier eine
gleichartige Grundlage nicht verkennen. Aber wie die Namen
und Formen, so sind auch die Dinge selbst unter der Hand
der Etrusker zu einem Widerspiele, zu einer Karikatur des
Ursprünglichen geworden. Hier ist nicht der Geist der Frei¬
heit, der uns anweht, so wie wir die Gränzen des Morgen¬
landes verlassen, sondern ein knechtischer Geist, welcher mit
der Angst des Sklaven den Göttern naht und sich einem uner¬
bittlichen Verhältnisse kriechend unterwirft.

Die Römer schwankten nicht, welcher Richtung sie sich
anschließen sollten. Die eine blieb ihnen immer ein Fremdes,
die andere nahmen sie mit ihren griechischen Formen und
ihrem apollinischen Spruchorakel in ihr eigenes Gemeinde¬
leben auf.

War doch auch im Allgemeinen das Verhalten Roms in
der Wahrung der sittlichen Freiheit dem der Griechen ent¬
sprechend. Wir finden dieselbe Abneigung gegen das unklare
Wesen der Traum- und Sterndeuterei, gegen den ungesichteten
Wust abergläubischer Ueberlieferungen; dasselbe Bestreben aller
mißbräuchlichen Willkür entgegen zu wirken und keine Priester¬
macht zu dulden, welche nach Standesinteresse die Geheimnisse
göttlicher Wissenschaft verwaltete. Die Erforschung des Schick¬
sals ist auch hier keine vorwitzige Neugier, kein Mittel, sich
eigene Entschlüsse und Anstrengungen zu ersparen, sondern sie
ist bestimmt, für das richtige Handeln leitende Normen zu
finden und namentlich für das öffentliche Handeln, für das
Leben des Staats in Krieg und Frieden.

Aber bei aller Verwandtschaft welche Verschiedenheit! Die
römische Divination unterscheidet sich von der griechischen
Mantik, indem bei ihr die praktischen Gesichtspunkte vorherr¬
schen. Hier ist keine Ekstase, keine poetische Erregung, keine

Die Unfreiheit der alten Welt.
ſich wie Tag und Nacht einander gegenüberſtanden. Am Meer¬
buſen von Neapel hatte Apollon ſeine Weiſſageſtätten aufge¬
richtet, nördlich vom Tiberfluſſe herrſchte die etruskiſche Mantik.
Gewiß ſtammt auch dieſe aus Vorderaſien durch Vermittelung
griechiſcher Seevölker. Wie in den Götternamen und Sagen,
in den Grab- und Tempelformen, ſo läßt ſich auch hier eine
gleichartige Grundlage nicht verkennen. Aber wie die Namen
und Formen, ſo ſind auch die Dinge ſelbſt unter der Hand
der Etrusker zu einem Widerſpiele, zu einer Karikatur des
Urſprünglichen geworden. Hier iſt nicht der Geiſt der Frei¬
heit, der uns anweht, ſo wie wir die Gränzen des Morgen¬
landes verlaſſen, ſondern ein knechtiſcher Geiſt, welcher mit
der Angſt des Sklaven den Göttern naht und ſich einem uner¬
bittlichen Verhältniſſe kriechend unterwirft.

Die Römer ſchwankten nicht, welcher Richtung ſie ſich
anſchließen ſollten. Die eine blieb ihnen immer ein Fremdes,
die andere nahmen ſie mit ihren griechiſchen Formen und
ihrem apolliniſchen Spruchorakel in ihr eigenes Gemeinde¬
leben auf.

War doch auch im Allgemeinen das Verhalten Roms in
der Wahrung der ſittlichen Freiheit dem der Griechen ent¬
ſprechend. Wir finden dieſelbe Abneigung gegen das unklare
Weſen der Traum- und Sterndeuterei, gegen den ungeſichteten
Wuſt abergläubiſcher Ueberlieferungen; daſſelbe Beſtreben aller
mißbräuchlichen Willkür entgegen zu wirken und keine Prieſter¬
macht zu dulden, welche nach Standesintereſſe die Geheimniſſe
göttlicher Wiſſenſchaft verwaltete. Die Erforſchung des Schick¬
ſals iſt auch hier keine vorwitzige Neugier, kein Mittel, ſich
eigene Entſchlüſſe und Anſtrengungen zu erſparen, ſondern ſie
iſt beſtimmt, für das richtige Handeln leitende Normen zu
finden und namentlich für das öffentliche Handeln, für das
Leben des Staats in Krieg und Frieden.

Aber bei aller Verwandtſchaft welche Verſchiedenheit! Die
römiſche Divination unterſcheidet ſich von der griechiſchen
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ſchen. Hier iſt keine Ekſtaſe, keine poetiſche Erregung, keine

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[175/0191] Die Unfreiheit der alten Welt. ſich wie Tag und Nacht einander gegenüberſtanden. Am Meer¬ buſen von Neapel hatte Apollon ſeine Weiſſageſtätten aufge¬ richtet, nördlich vom Tiberfluſſe herrſchte die etruskiſche Mantik. Gewiß ſtammt auch dieſe aus Vorderaſien durch Vermittelung griechiſcher Seevölker. Wie in den Götternamen und Sagen, in den Grab- und Tempelformen, ſo läßt ſich auch hier eine gleichartige Grundlage nicht verkennen. Aber wie die Namen und Formen, ſo ſind auch die Dinge ſelbſt unter der Hand der Etrusker zu einem Widerſpiele, zu einer Karikatur des Urſprünglichen geworden. Hier iſt nicht der Geiſt der Frei¬ heit, der uns anweht, ſo wie wir die Gränzen des Morgen¬ landes verlaſſen, ſondern ein knechtiſcher Geiſt, welcher mit der Angſt des Sklaven den Göttern naht und ſich einem uner¬ bittlichen Verhältniſſe kriechend unterwirft. Die Römer ſchwankten nicht, welcher Richtung ſie ſich anſchließen ſollten. Die eine blieb ihnen immer ein Fremdes, die andere nahmen ſie mit ihren griechiſchen Formen und ihrem apolliniſchen Spruchorakel in ihr eigenes Gemeinde¬ leben auf. War doch auch im Allgemeinen das Verhalten Roms in der Wahrung der ſittlichen Freiheit dem der Griechen ent¬ ſprechend. Wir finden dieſelbe Abneigung gegen das unklare Weſen der Traum- und Sterndeuterei, gegen den ungeſichteten Wuſt abergläubiſcher Ueberlieferungen; daſſelbe Beſtreben aller mißbräuchlichen Willkür entgegen zu wirken und keine Prieſter¬ macht zu dulden, welche nach Standesintereſſe die Geheimniſſe göttlicher Wiſſenſchaft verwaltete. Die Erforſchung des Schick¬ ſals iſt auch hier keine vorwitzige Neugier, kein Mittel, ſich eigene Entſchlüſſe und Anſtrengungen zu erſparen, ſondern ſie iſt beſtimmt, für das richtige Handeln leitende Normen zu finden und namentlich für das öffentliche Handeln, für das Leben des Staats in Krieg und Frieden. Aber bei aller Verwandtſchaft welche Verſchiedenheit! Die römiſche Divination unterſcheidet ſich von der griechiſchen Mantik, indem bei ihr die praktiſchen Geſichtspunkte vorherr¬ ſchen. Hier iſt keine Ekſtaſe, keine poetiſche Erregung, keine

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/191>, abgerufen am 28.11.2024.