Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Die Unfreiheit der alten Welt. Weisheit ihrer Sophisten, welche den Menschen zum Herrnder Welt und sein Urtheil zum Maße aller Dinge machen wollten? Sie entrissen ihm nur die letzten Haltpunkte und drängten das Gemüth in seiner Rathlosigkeit immer tiefer in die Bande der Unfreiheit. Das einzige Mittel war, die Keime des gesunden Volks¬ Aus denselben Gegenden Kleinasiens, woher die Hellenen Rom ist keine Stätte neuer Erfindungen gewesen. Die Die Unfreiheit der alten Welt. Weisheit ihrer Sophiſten, welche den Menſchen zum Herrnder Welt und ſein Urtheil zum Maße aller Dinge machen wollten? Sie entriſſen ihm nur die letzten Haltpunkte und drängten das Gemüth in ſeiner Rathloſigkeit immer tiefer in die Bande der Unfreiheit. Das einzige Mittel war, die Keime des geſunden Volks¬ Aus denſelben Gegenden Kleinaſiens, woher die Hellenen Rom iſt keine Stätte neuer Erfindungen geweſen. Die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0190" n="174"/><fw place="top" type="header">Die Unfreiheit der alten Welt.<lb/></fw> Weisheit ihrer Sophiſten, welche den Menſchen zum Herrn<lb/> der Welt und ſein Urtheil zum Maße aller Dinge machen<lb/> wollten? Sie entriſſen ihm nur die letzten Haltpunkte und<lb/> drängten das Gemüth in ſeiner Rathloſigkeit immer tiefer in<lb/> die Bande der Unfreiheit.</p><lb/> <p>Das einzige Mittel war, die Keime des geſunden Volks¬<lb/> bewußtſeins, welches noch in den Athenern lebte, zu pflegen<lb/> und zu läutern. Das that Sokrates. Er ehrte aufrichtig den<lb/> frommen Sinn, der ſich in der Befragung der Götter offen¬<lb/> barte; er erkannte in der Mantik eine durch nichts Anderes<lb/> zu erſetzende Art der Frömmigkeit, welche er ſelbſt übte und<lb/> Anderen empfahl; es war ihm gewiſſermaßen eine geſteigerte<lb/> Gebetsübung. Aber er ſuchte die volksthümliche Weiſe zu<lb/> verinnerlichen; er wies in echt helleniſcher Weiſe auf die ent¬<lb/> ſcheidende Stimme des eignen Gewiſſens hin, den Gott in des<lb/> Menſchen Bruſt, den untrüglichen Rathgeber, welcher den Auf¬<lb/> richtigen nicht im Stiche laſſe. Auch Platon faßte als echter<lb/> Hellene die Mantik als einen traulichen Verkehr zwiſchen<lb/> Menſch und Gottheit auf; das ſchöne und zarte Verhältniß<lb/> ſeiner Vaterſtadt zu Delphi ſtellte er in verklärtem Bilde dar,<lb/> und je ernſter es die ſpätern Philoſophen mit den ſittlichen<lb/> Aufgaben nahmen, um ſo mehr ſuchten ſie auch der Mantik<lb/> ihre Ehre zu erhalten.</p><lb/> <p>Aus denſelben Gegenden Kleinaſiens, woher die Hellenen<lb/> ihre Zeichen- und Wunderlehren empfangen haben, ſind gleiche<lb/> Anregungen auch weiter gegen Abend verbreitet, haben die<lb/> italiſche Halbinſel durchdrungen und auf die Geſchichte Roms<lb/> einen tiefgreifenden Einfluß gewonnen.</p><lb/> <p>Rom iſt keine Stätte neuer Erfindungen geweſen. Die<lb/> Entwickelung ſeiner Größe beſtand darin, daß es das, was<lb/> Italien an geiſtiger Cultur und Lebenskraft beſaß, in immer<lb/> weiteren Kreiſen ſich aneignete, und ſeit den erſten Anfängen<lb/> iſt auch griechiſche Sitte auf den Tiberhügeln anſäſſig geweſen.<lb/> Was aber das Verhältniß der Menſchen zu den Schickſal<lb/> lenkenden Göttern betrifft, ſo hatten ſich an den Gränzen von<lb/> Latium beſonders zweierlei Glaubensformen ausgebildet, welche<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [174/0190]
Die Unfreiheit der alten Welt.
Weisheit ihrer Sophiſten, welche den Menſchen zum Herrn
der Welt und ſein Urtheil zum Maße aller Dinge machen
wollten? Sie entriſſen ihm nur die letzten Haltpunkte und
drängten das Gemüth in ſeiner Rathloſigkeit immer tiefer in
die Bande der Unfreiheit.
Das einzige Mittel war, die Keime des geſunden Volks¬
bewußtſeins, welches noch in den Athenern lebte, zu pflegen
und zu läutern. Das that Sokrates. Er ehrte aufrichtig den
frommen Sinn, der ſich in der Befragung der Götter offen¬
barte; er erkannte in der Mantik eine durch nichts Anderes
zu erſetzende Art der Frömmigkeit, welche er ſelbſt übte und
Anderen empfahl; es war ihm gewiſſermaßen eine geſteigerte
Gebetsübung. Aber er ſuchte die volksthümliche Weiſe zu
verinnerlichen; er wies in echt helleniſcher Weiſe auf die ent¬
ſcheidende Stimme des eignen Gewiſſens hin, den Gott in des
Menſchen Bruſt, den untrüglichen Rathgeber, welcher den Auf¬
richtigen nicht im Stiche laſſe. Auch Platon faßte als echter
Hellene die Mantik als einen traulichen Verkehr zwiſchen
Menſch und Gottheit auf; das ſchöne und zarte Verhältniß
ſeiner Vaterſtadt zu Delphi ſtellte er in verklärtem Bilde dar,
und je ernſter es die ſpätern Philoſophen mit den ſittlichen
Aufgaben nahmen, um ſo mehr ſuchten ſie auch der Mantik
ihre Ehre zu erhalten.
Aus denſelben Gegenden Kleinaſiens, woher die Hellenen
ihre Zeichen- und Wunderlehren empfangen haben, ſind gleiche
Anregungen auch weiter gegen Abend verbreitet, haben die
italiſche Halbinſel durchdrungen und auf die Geſchichte Roms
einen tiefgreifenden Einfluß gewonnen.
Rom iſt keine Stätte neuer Erfindungen geweſen. Die
Entwickelung ſeiner Größe beſtand darin, daß es das, was
Italien an geiſtiger Cultur und Lebenskraft beſaß, in immer
weiteren Kreiſen ſich aneignete, und ſeit den erſten Anfängen
iſt auch griechiſche Sitte auf den Tiberhügeln anſäſſig geweſen.
Was aber das Verhältniß der Menſchen zu den Schickſal
lenkenden Göttern betrifft, ſo hatten ſich an den Gränzen von
Latium beſonders zweierlei Glaubensformen ausgebildet, welche
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |