Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Arbeit und Muße. Freiheit giebt, sich dem hinzugeben, was seinem Herzen liebist; jeder Tag hat seinen Feierabend, der wie ein milder Thau auf die Erde kommt, und wer im Süden gelebt hat, wo die Menschen naturgemäßer ihr Dasein einrichten, der weiß, welche Poesie in der Abendstunde liegt, wenn die Glocken zum Ave Maria anschlagen und eine selige Ruhe über Stadt und Land sich ausbreitet. Viel schwieriger wird die Lebensführung, wo die Thei¬ Aber die geistige Erwerbslust ist ziellos wie die welt¬ Das Leben des Forschers ist von den Hellenen als das Arbeit und Muße. Freiheit giebt, ſich dem hinzugeben, was ſeinem Herzen liebiſt; jeder Tag hat ſeinen Feierabend, der wie ein milder Thau auf die Erde kommt, und wer im Süden gelebt hat, wo die Menſchen naturgemäßer ihr Daſein einrichten, der weiß, welche Poeſie in der Abendſtunde liegt, wenn die Glocken zum Ave Maria anſchlagen und eine ſelige Ruhe über Stadt und Land ſich ausbreitet. Viel ſchwieriger wird die Lebensführung, wo die Thei¬ Aber die geiſtige Erwerbsluſt iſt ziellos wie die welt¬ Das Leben des Forſchers iſt von den Hellenen als das <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0174" n="158"/><fw place="top" type="header">Arbeit und Muße.<lb/></fw> Freiheit giebt, ſich dem hinzugeben, was ſeinem Herzen lieb<lb/> iſt; jeder Tag hat ſeinen Feierabend, der wie ein milder Thau<lb/> auf die Erde kommt, und wer im Süden gelebt hat, wo die<lb/> Menſchen naturgemäßer ihr Daſein einrichten, der weiß, welche<lb/> Poeſie in der Abendſtunde liegt, wenn die Glocken zum <hi rendition="#aq">Ave<lb/> Maria</hi> anſchlagen und eine ſelige Ruhe über Stadt und Land<lb/> ſich ausbreitet.</p><lb/> <p>Viel ſchwieriger wird die Lebensführung, wo die Thei¬<lb/> lung zwiſchen Arbeit und Muße keine gegebene iſt, wo das<lb/> ganze Leben dem gewidmet iſt, was bei der großen Mehrzahl<lb/> der Menſchen, die überhaupt zu einem geiſtigen Leben erwacht<lb/> ſind, den Inhalt glücklicher Mußeſtunden bildet. Sie ſind wohl<lb/> die wahrhaft Freien; ſie wandeln gleichſam in einer höheren<lb/> und reineren Atmoſphäre, unbenommen von den Tagesfragen,<lb/> die heute alle Welt aufregen und morgen verklungen ſind, fern<lb/> vom verwirrenden Treiben der Partei, dem Ewigen und un¬<lb/> bedingt Gültigen unverwandt zugewendet, um mit geſammelter<lb/> Kraft die menſchliche Erkenntniß zu erweitern.</p><lb/> <p>Aber die <hi rendition="#g">geiſtige</hi> Erwerbsluſt iſt ziellos wie die welt¬<lb/> liche, und je mehr ſich die Forſchung über den Stoff erhebt<lb/> und den Geſetzen nachgeht, welche allen Erſcheinungen zu<lb/> Grunde liegen, um ſo raſtloſer zieht ſie den Menſchen mit ſich<lb/> fort. Darum iſt der ſcheinbar Freiſte der am meiſten Ge¬<lb/> bundene und der in Muße Schwelgende entbehrt ihrer am<lb/> meiſten; denn ſeine Arbeit hat keinen natürlichen Ruhepunkt,<lb/> ſein Tagewerk keinen Feierabend. Wenn die müde Welt aus¬<lb/> ruht, bleiben ſeine Gedanken in voller Anſpannung und ein<lb/> ungelöſtes Problem erhält ihn Tag und Nacht in Aufregung.</p><lb/> <p>Das Leben des Forſchers iſt von den Hellenen als das<lb/> des Menſchen würdigſte, reinſte und erhabenſte anerkannt<lb/> worden. »Glückſelig der Mann,« ſagt Euripides in den Wor¬<lb/> ten, welche von den Athenern auf Anaxagoras bezogen wurden,<lb/> »glückſelig der Mann, ſo der Forſchung Gebiet durchwandelt<lb/> und nicht an verderblichem Zwiſt Theil hat, der nie Unrechtes<lb/> gewollt. Sein Blick ſchaut ſtill in der ew'gen Natur nie al¬<lb/> ternde Ordnung; er prüft, wie ſie ward und wodurch ſie ent¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [158/0174]
Arbeit und Muße.
Freiheit giebt, ſich dem hinzugeben, was ſeinem Herzen lieb
iſt; jeder Tag hat ſeinen Feierabend, der wie ein milder Thau
auf die Erde kommt, und wer im Süden gelebt hat, wo die
Menſchen naturgemäßer ihr Daſein einrichten, der weiß, welche
Poeſie in der Abendſtunde liegt, wenn die Glocken zum Ave
Maria anſchlagen und eine ſelige Ruhe über Stadt und Land
ſich ausbreitet.
Viel ſchwieriger wird die Lebensführung, wo die Thei¬
lung zwiſchen Arbeit und Muße keine gegebene iſt, wo das
ganze Leben dem gewidmet iſt, was bei der großen Mehrzahl
der Menſchen, die überhaupt zu einem geiſtigen Leben erwacht
ſind, den Inhalt glücklicher Mußeſtunden bildet. Sie ſind wohl
die wahrhaft Freien; ſie wandeln gleichſam in einer höheren
und reineren Atmoſphäre, unbenommen von den Tagesfragen,
die heute alle Welt aufregen und morgen verklungen ſind, fern
vom verwirrenden Treiben der Partei, dem Ewigen und un¬
bedingt Gültigen unverwandt zugewendet, um mit geſammelter
Kraft die menſchliche Erkenntniß zu erweitern.
Aber die geiſtige Erwerbsluſt iſt ziellos wie die welt¬
liche, und je mehr ſich die Forſchung über den Stoff erhebt
und den Geſetzen nachgeht, welche allen Erſcheinungen zu
Grunde liegen, um ſo raſtloſer zieht ſie den Menſchen mit ſich
fort. Darum iſt der ſcheinbar Freiſte der am meiſten Ge¬
bundene und der in Muße Schwelgende entbehrt ihrer am
meiſten; denn ſeine Arbeit hat keinen natürlichen Ruhepunkt,
ſein Tagewerk keinen Feierabend. Wenn die müde Welt aus¬
ruht, bleiben ſeine Gedanken in voller Anſpannung und ein
ungelöſtes Problem erhält ihn Tag und Nacht in Aufregung.
Das Leben des Forſchers iſt von den Hellenen als das
des Menſchen würdigſte, reinſte und erhabenſte anerkannt
worden. »Glückſelig der Mann,« ſagt Euripides in den Wor¬
ten, welche von den Athenern auf Anaxagoras bezogen wurden,
»glückſelig der Mann, ſo der Forſchung Gebiet durchwandelt
und nicht an verderblichem Zwiſt Theil hat, der nie Unrechtes
gewollt. Sein Blick ſchaut ſtill in der ew'gen Natur nie al¬
ternde Ordnung; er prüft, wie ſie ward und wodurch ſie ent¬
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |