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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der Wettkampf.
blutigen Kampfe wurde. Auch Athens Ehrgeiz, so edler Quelle
er entsprungen war, ist zur rücksichtslosesten Herrschsucht aus¬
geartet, und so ist die vom Wetteifer entfachte Flamme der
Begeisterung ein Feuer geworden, das im Brande des Bürger¬
kriegs die Blüthe der Staaten frühzeitig vernichtet hat.

Lauterer und wohlthätiger ist der Wetteifer auf dem Ge¬
biete geblieben, auf welchem Alle bereit sind der Hellenen volle
Bedeutung anzuerkennen. Denn während ihren Staatsbildun¬
gen -- so lehrreich allen Zeiten ihre Betrachtung sein wird --
doch keine über den Kreis ihrer Volksgeschichte hinausreichende
Gültigkeit zugeschrieben werden kann, sind sie in Kunst und
Wissenschaft bis heute die Gesetzgeber geblieben, und diese welt¬
geschichtliche Stellung verdanken sie jenem Triebe, der ihnen
keine Ruhe ließ, bis sie das Ihrige gethan hatten, um alle
dem Menschen verliehenen Kräfte zu entwickeln und dieselben
bis zur vollständigen Ausbildung durch den Reiz des Wett¬
eifers in Spannung zu halten.

Die ganze Poesie der Hellenen ist im Wettkampfe groß
gezogen. In den Palästen der Fürsten, an den Grabhügeln
der Helden, vor den Tempeln der Götter, auf den vollen
Märkten der Städte wetteiferten die Rhapsoden. In diesen
Kämpfen erstarkte die epische Kunst zu jener vollen Kraft und
Sicherheit, in der uns von Anfang an das griechische Epos
entgegentritt. Als Wettgesang vor dem versammelten Volke
blieb die Kunst auch bei vollendeter Meisterschaft durchaus na¬
tional; sie konnte nicht erstarren in schulmäßigen Formen, noch
in Künstelei und Willkür des Geschmacks abirren. Sie schloß
sich den Neigungen und Stimmungen der verschiedenen Stämme
an, und während dem Phlegma ackerbauender Aeolier das
lehrhafte Epos zusagte, gaben die feuriger bewegten, thaten-
und wanderlustigeren Stämme dem Heldenliede Homer's den
Preis vor Hesiod.

Im Wetteifer der Stämme bildete sich die griechische
Musik, ordneten und gründeten sich die nationalen Weisen lyri¬
scher Kunst. Im Namen der Götter wurden die Hymnensänger
aufgeboten, und es empfing den Ehrenpreis, wer bei dem Weih¬

Der Wettkampf.
blutigen Kampfe wurde. Auch Athens Ehrgeiz, ſo edler Quelle
er entſprungen war, iſt zur rückſichtsloſeſten Herrſchſucht aus¬
geartet, und ſo iſt die vom Wetteifer entfachte Flamme der
Begeiſterung ein Feuer geworden, das im Brande des Bürger¬
kriegs die Blüthe der Staaten frühzeitig vernichtet hat.

Lauterer und wohlthätiger iſt der Wetteifer auf dem Ge¬
biete geblieben, auf welchem Alle bereit ſind der Hellenen volle
Bedeutung anzuerkennen. Denn während ihren Staatsbildun¬
gen — ſo lehrreich allen Zeiten ihre Betrachtung ſein wird —
doch keine über den Kreis ihrer Volksgeſchichte hinausreichende
Gültigkeit zugeſchrieben werden kann, ſind ſie in Kunſt und
Wiſſenſchaft bis heute die Geſetzgeber geblieben, und dieſe welt¬
geſchichtliche Stellung verdanken ſie jenem Triebe, der ihnen
keine Ruhe ließ, bis ſie das Ihrige gethan hatten, um alle
dem Menſchen verliehenen Kräfte zu entwickeln und dieſelben
bis zur vollſtändigen Ausbildung durch den Reiz des Wett¬
eifers in Spannung zu halten.

Die ganze Poeſie der Hellenen iſt im Wettkampfe groß
gezogen. In den Paläſten der Fürſten, an den Grabhügeln
der Helden, vor den Tempeln der Götter, auf den vollen
Märkten der Städte wetteiferten die Rhapſoden. In dieſen
Kämpfen erſtarkte die epiſche Kunſt zu jener vollen Kraft und
Sicherheit, in der uns von Anfang an das griechiſche Epos
entgegentritt. Als Wettgeſang vor dem verſammelten Volke
blieb die Kunſt auch bei vollendeter Meiſterſchaft durchaus na¬
tional; ſie konnte nicht erſtarren in ſchulmäßigen Formen, noch
in Künſtelei und Willkür des Geſchmacks abirren. Sie ſchloß
ſich den Neigungen und Stimmungen der verſchiedenen Stämme
an, und während dem Phlegma ackerbauender Aeolier das
lehrhafte Epos zuſagte, gaben die feuriger bewegten, thaten-
und wanderluſtigeren Stämme dem Heldenliede Homer's den
Preis vor Heſiod.

Im Wetteifer der Stämme bildete ſich die griechiſche
Muſik, ordneten und gründeten ſich die nationalen Weiſen lyri¬
ſcher Kunſt. Im Namen der Götter wurden die Hymnenſänger
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[138/0154] Der Wettkampf. blutigen Kampfe wurde. Auch Athens Ehrgeiz, ſo edler Quelle er entſprungen war, iſt zur rückſichtsloſeſten Herrſchſucht aus¬ geartet, und ſo iſt die vom Wetteifer entfachte Flamme der Begeiſterung ein Feuer geworden, das im Brande des Bürger¬ kriegs die Blüthe der Staaten frühzeitig vernichtet hat. Lauterer und wohlthätiger iſt der Wetteifer auf dem Ge¬ biete geblieben, auf welchem Alle bereit ſind der Hellenen volle Bedeutung anzuerkennen. Denn während ihren Staatsbildun¬ gen — ſo lehrreich allen Zeiten ihre Betrachtung ſein wird — doch keine über den Kreis ihrer Volksgeſchichte hinausreichende Gültigkeit zugeſchrieben werden kann, ſind ſie in Kunſt und Wiſſenſchaft bis heute die Geſetzgeber geblieben, und dieſe welt¬ geſchichtliche Stellung verdanken ſie jenem Triebe, der ihnen keine Ruhe ließ, bis ſie das Ihrige gethan hatten, um alle dem Menſchen verliehenen Kräfte zu entwickeln und dieſelben bis zur vollſtändigen Ausbildung durch den Reiz des Wett¬ eifers in Spannung zu halten. Die ganze Poeſie der Hellenen iſt im Wettkampfe groß gezogen. In den Paläſten der Fürſten, an den Grabhügeln der Helden, vor den Tempeln der Götter, auf den vollen Märkten der Städte wetteiferten die Rhapſoden. In dieſen Kämpfen erſtarkte die epiſche Kunſt zu jener vollen Kraft und Sicherheit, in der uns von Anfang an das griechiſche Epos entgegentritt. Als Wettgeſang vor dem verſammelten Volke blieb die Kunſt auch bei vollendeter Meiſterſchaft durchaus na¬ tional; ſie konnte nicht erſtarren in ſchulmäßigen Formen, noch in Künſtelei und Willkür des Geſchmacks abirren. Sie ſchloß ſich den Neigungen und Stimmungen der verſchiedenen Stämme an, und während dem Phlegma ackerbauender Aeolier das lehrhafte Epos zuſagte, gaben die feuriger bewegten, thaten- und wanderluſtigeren Stämme dem Heldenliede Homer's den Preis vor Heſiod. Im Wetteifer der Stämme bildete ſich die griechiſche Muſik, ordneten und gründeten ſich die nationalen Weiſen lyri¬ ſcher Kunſt. Im Namen der Götter wurden die Hymnenſänger aufgeboten, und es empfing den Ehrenpreis, wer bei dem Weih¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/154>, abgerufen am 04.12.2024.