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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der Wettkampf.
Drangsale, mit unglaublicher Anstrengung und Opferfreudig¬
keit den Ehrenkranz gewonnen. Es hat die sittliche Idee der
griechischen Geschichte am tiefsten erfaßt, am vollständigsten
verwirklicht, und was für den olympischen Sieger der Gesang
des Pindar war, das ist für Athen die Rede des Perikles, in
welcher er die Gräber des Kerameikos weihte und zugleich --
seinen Mitbürgern zur Erhebung, allen nachfolgenden Men¬
schengeschlechtern zur Bewunderung -- ein lebensvolles Bild
dessen entfaltete, was unter göttlichem Segen durch der Bürger
wetteifernde Tüchtigkeit Athen geworden war.

Zum Tode verwundet kam Athen aus dem Bürgerkriege
hervor, aber, so oft es sich erholt, beginnt es von Neuem den
Wettkampf gegen Sparta wie gegen Theben, mit dem der
weit zurückgebliebene Stamm der Aeolier noch einmal in die
Schranken eintritt; es erneuert Makedonien gegenüber seinen
geschichtlichen Anspruch die erste Stadt der Hellenen zu sein
und seine letzten Versuche sind auch die letzten Athemzüge der
griechischen Geschichte.

Es ist unrecht, die griechische Staatengeschichte im Ver¬
gleiche mit anderen gering zu schätzen und den raschen Verlauf
derselben, ihre ruhelosen Kämpfe und Gährungen als einen
Beweis dafür anzuführen, daß die Hellenen zur Lösung poli¬
tischer Aufgaben nur geringe Befähigung besessen hätten.

Der beste Gegenbeweis ist die Thatsache, daß die Hellenen
alle Gattungen von Staatsverfassungen bei sich ausgebildet,
ihre verschiedenen Formen klar ausgeprägt und zugleich eine
für alle Zeit maßgebende Staatslehre begründet haben. Ein
Volk, dessen Geschichte mit der Politik des Aristoteles abschließt,
ist gewiß kein unpolitisches. Aber je mehr die edelsten Staaten
des Alterthums in der freien Entfaltung aller menschlichen
Anlagen ihren Beruf erkannten -- denn auch der einzelne
Staat war eine Palästra bürgerlicher Tüchtigkeit, wo dem
Bestbewährten als Preis Macht und Ehre ertheilt wurde --,
um so rascher verzehrten sich die Kräfte, um so kürzer war
die Lebensdauer jener Staaten. Dazu kommt, daß nach der
Schwäche menschlicher Natur jener Wetteifer der Staaten zum

Der Wettkampf.
Drangſale, mit unglaublicher Anſtrengung und Opferfreudig¬
keit den Ehrenkranz gewonnen. Es hat die ſittliche Idee der
griechiſchen Geſchichte am tiefſten erfaßt, am vollſtändigſten
verwirklicht, und was für den olympiſchen Sieger der Geſang
des Pindar war, das iſt für Athen die Rede des Perikles, in
welcher er die Gräber des Kerameikos weihte und zugleich —
ſeinen Mitbürgern zur Erhebung, allen nachfolgenden Men¬
ſchengeſchlechtern zur Bewunderung — ein lebensvolles Bild
deſſen entfaltete, was unter göttlichem Segen durch der Bürger
wetteifernde Tüchtigkeit Athen geworden war.

Zum Tode verwundet kam Athen aus dem Bürgerkriege
hervor, aber, ſo oft es ſich erholt, beginnt es von Neuem den
Wettkampf gegen Sparta wie gegen Theben, mit dem der
weit zurückgebliebene Stamm der Aeolier noch einmal in die
Schranken eintritt; es erneuert Makedonien gegenüber ſeinen
geſchichtlichen Anſpruch die erſte Stadt der Hellenen zu ſein
und ſeine letzten Verſuche ſind auch die letzten Athemzüge der
griechiſchen Geſchichte.

Es iſt unrecht, die griechiſche Staatengeſchichte im Ver¬
gleiche mit anderen gering zu ſchätzen und den raſchen Verlauf
derſelben, ihre ruheloſen Kämpfe und Gährungen als einen
Beweis dafür anzuführen, daß die Hellenen zur Löſung poli¬
tiſcher Aufgaben nur geringe Befähigung beſeſſen hätten.

Der beſte Gegenbeweis iſt die Thatſache, daß die Hellenen
alle Gattungen von Staatsverfaſſungen bei ſich ausgebildet,
ihre verſchiedenen Formen klar ausgeprägt und zugleich eine
für alle Zeit maßgebende Staatslehre begründet haben. Ein
Volk, deſſen Geſchichte mit der Politik des Ariſtoteles abſchließt,
iſt gewiß kein unpolitiſches. Aber je mehr die edelſten Staaten
des Alterthums in der freien Entfaltung aller menſchlichen
Anlagen ihren Beruf erkannten — denn auch der einzelne
Staat war eine Paläſtra bürgerlicher Tüchtigkeit, wo dem
Beſtbewährten als Preis Macht und Ehre ertheilt wurde —,
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die Lebensdauer jener Staaten. Dazu kommt, daß nach der
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[137/0153] Der Wettkampf. Drangſale, mit unglaublicher Anſtrengung und Opferfreudig¬ keit den Ehrenkranz gewonnen. Es hat die ſittliche Idee der griechiſchen Geſchichte am tiefſten erfaßt, am vollſtändigſten verwirklicht, und was für den olympiſchen Sieger der Geſang des Pindar war, das iſt für Athen die Rede des Perikles, in welcher er die Gräber des Kerameikos weihte und zugleich — ſeinen Mitbürgern zur Erhebung, allen nachfolgenden Men¬ ſchengeſchlechtern zur Bewunderung — ein lebensvolles Bild deſſen entfaltete, was unter göttlichem Segen durch der Bürger wetteifernde Tüchtigkeit Athen geworden war. Zum Tode verwundet kam Athen aus dem Bürgerkriege hervor, aber, ſo oft es ſich erholt, beginnt es von Neuem den Wettkampf gegen Sparta wie gegen Theben, mit dem der weit zurückgebliebene Stamm der Aeolier noch einmal in die Schranken eintritt; es erneuert Makedonien gegenüber ſeinen geſchichtlichen Anſpruch die erſte Stadt der Hellenen zu ſein und ſeine letzten Verſuche ſind auch die letzten Athemzüge der griechiſchen Geſchichte. Es iſt unrecht, die griechiſche Staatengeſchichte im Ver¬ gleiche mit anderen gering zu ſchätzen und den raſchen Verlauf derſelben, ihre ruheloſen Kämpfe und Gährungen als einen Beweis dafür anzuführen, daß die Hellenen zur Löſung poli¬ tiſcher Aufgaben nur geringe Befähigung beſeſſen hätten. Der beſte Gegenbeweis iſt die Thatſache, daß die Hellenen alle Gattungen von Staatsverfaſſungen bei ſich ausgebildet, ihre verſchiedenen Formen klar ausgeprägt und zugleich eine für alle Zeit maßgebende Staatslehre begründet haben. Ein Volk, deſſen Geſchichte mit der Politik des Ariſtoteles abſchließt, iſt gewiß kein unpolitiſches. Aber je mehr die edelſten Staaten des Alterthums in der freien Entfaltung aller menſchlichen Anlagen ihren Beruf erkannten — denn auch der einzelne Staat war eine Paläſtra bürgerlicher Tüchtigkeit, wo dem Beſtbewährten als Preis Macht und Ehre ertheilt wurde —, um ſo raſcher verzehrten ſich die Kräfte, um ſo kürzer war die Lebensdauer jener Staaten. Dazu kommt, daß nach der Schwäche menſchlicher Natur jener Wetteifer der Staaten zum

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/153>, abgerufen am 18.05.2024.