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Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

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XXII. Betrachtung.
mangelhafter Sittenlehrer, er habe die Liebe nicht
empfohlen, die wir dem Vaterlande schuldig sind.
Denn es gehört nur einige Bekanntschaft mit seiner
Geschichte dazu, um in seinem Charakter recht viel
sichtbare Zuneigung und Liebe für sein Vaterland
wahrzunehmen. Diesem widmete er sich ganz und
recht vorzugsweise; ja, er zeigte bey jeder Gelegen-
heit, wie sehr ihm die Wohlfahrt desselben am Her-
zen liege. Lebte er gleich unter einem rohen unwis-
senden Volke, und unter einer Regierung, die in je-
der Rücksicht tadelnswürdig, und die besonders ge-
gen ihn äußerst ungerecht und grausam handelte, so
bewies er dennoch gegen dieses sein Vaterland die in-
nigste Zärtlichkeit, und einen gar nicht zu ermüden-
den Eifer, man mag nun entweder auf sein Privatle-
ben, oder auf sein öffentliches Lehramt hinsehen. Bis
in sein dreisigstes Jahr war er in seinem stillen Pri-
vatleben ein geschäftiger nützlicher Bürger, ohne sich
dem niedrigen Berufe zu entziehen, zu dem man ihn
nach dem Beyspiele seines Pflegevaters anhielt.*)
Als er aber in der Folge sein Lehramt antrat, so ar-
beitete er unaufhörlich an der sittlichen Besserung sei-
ner Landsleute, und wiewohl er seine Belehrungen
für das ganze Menschengeschlecht bestimmte, so nahm
er doch dabey zuerst und zunächst auf die Juden Rück-
sicht. Kein anderes Land, als Judäa, sollte nach
dem ursprünglichen Plane der Gottheit, der Wohl-

that
*) Marc. 6, 3.

XXII. Betrachtung.
mangelhafter Sittenlehrer, er habe die Liebe nicht
empfohlen, die wir dem Vaterlande ſchuldig ſind.
Denn es gehört nur einige Bekanntſchaft mit ſeiner
Geſchichte dazu, um in ſeinem Charakter recht viel
ſichtbare Zuneigung und Liebe für ſein Vaterland
wahrzunehmen. Dieſem widmete er ſich ganz und
recht vorzugsweiſe; ja, er zeigte bey jeder Gelegen-
heit, wie ſehr ihm die Wohlfahrt deſſelben am Her-
zen liege. Lebte er gleich unter einem rohen unwiſ-
ſenden Volke, und unter einer Regierung, die in je-
der Rückſicht tadelnswürdig, und die beſonders ge-
gen ihn äußerſt ungerecht und grauſam handelte, ſo
bewies er dennoch gegen dieſes ſein Vaterland die in-
nigſte Zärtlichkeit, und einen gar nicht zu ermüden-
den Eifer, man mag nun entweder auf ſein Privatle-
ben, oder auf ſein öffentliches Lehramt hinſehen. Bis
in ſein dreiſigſtes Jahr war er in ſeinem ſtillen Pri-
vatleben ein geſchäftiger nützlicher Bürger, ohne ſich
dem niedrigen Berufe zu entziehen, zu dem man ihn
nach dem Beyſpiele ſeines Pflegevaters anhielt.*)
Als er aber in der Folge ſein Lehramt antrat, ſo ar-
beitete er unaufhörlich an der ſittlichen Beſſerung ſei-
ner Landsleute, und wiewohl er ſeine Belehrungen
für das ganze Menſchengeſchlecht beſtimmte, ſo nahm
er doch dabey zuerſt und zunächſt auf die Juden Rück-
ſicht. Kein anderes Land, als Judäa, ſollte nach
dem urſprünglichen Plane der Gottheit, der Wohl-

that
*) Marc. 6, 3.
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[139/0165] XXII. Betrachtung. mangelhafter Sittenlehrer, er habe die Liebe nicht empfohlen, die wir dem Vaterlande ſchuldig ſind. Denn es gehört nur einige Bekanntſchaft mit ſeiner Geſchichte dazu, um in ſeinem Charakter recht viel ſichtbare Zuneigung und Liebe für ſein Vaterland wahrzunehmen. Dieſem widmete er ſich ganz und recht vorzugsweiſe; ja, er zeigte bey jeder Gelegen- heit, wie ſehr ihm die Wohlfahrt deſſelben am Her- zen liege. Lebte er gleich unter einem rohen unwiſ- ſenden Volke, und unter einer Regierung, die in je- der Rückſicht tadelnswürdig, und die beſonders ge- gen ihn äußerſt ungerecht und grauſam handelte, ſo bewies er dennoch gegen dieſes ſein Vaterland die in- nigſte Zärtlichkeit, und einen gar nicht zu ermüden- den Eifer, man mag nun entweder auf ſein Privatle- ben, oder auf ſein öffentliches Lehramt hinſehen. Bis in ſein dreiſigſtes Jahr war er in ſeinem ſtillen Pri- vatleben ein geſchäftiger nützlicher Bürger, ohne ſich dem niedrigen Berufe zu entziehen, zu dem man ihn nach dem Beyſpiele ſeines Pflegevaters anhielt. *) Als er aber in der Folge ſein Lehramt antrat, ſo ar- beitete er unaufhörlich an der ſittlichen Beſſerung ſei- ner Landsleute, und wiewohl er ſeine Belehrungen für das ganze Menſchengeſchlecht beſtimmte, ſo nahm er doch dabey zuerſt und zunächſt auf die Juden Rück- ſicht. Kein anderes Land, als Judäa, ſollte nach dem urſprünglichen Plane der Gottheit, der Wohl- that *) Marc. 6, 3.

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Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/165>, abgerufen am 25.11.2024.