Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

keinem Spiegel sehen können, wenn er angelaufen
oder bestäubt ist. So wird meine Seele keine Ge-
danken vom Lichte erzeugen, keine Wahrheiten von
den Farben, von der Ordnung und Schönheit der
sichtbaren Welt erkennen, wenn mein Auge nicht
die natürliche Beschaffenheit hat, die es haben
soll. Mein Wille wird den Vorsatz, einen Un-
glücklichen in seinem Falle aufzuhalten, oder ihn
aus einer Grube herauszuziehen, nicht ausfüh-
ren können, wenn die Nerven meiner Hand durch
einen plötzlichen Zufall gelähmt werden. Ein
Künstler wird misvergnügt, wenn die Werkzeuge
seiner Kunst, ohne welche er seine Entwürfe nicht
ausführen kann, beschädigt sind; er wird auch
außer Stand gesetzt, wenn weder er noch ein an-
drer sie wieder herstellen kann, an seinen Werken
fortzuarbeiten. Darf ich mich denn verwundern,
wenn meine Seele Theil an den Veränderungen
nimmt, die ihrem Körper schaden, oder diesen und
jenen nützlichen Theil desselben verletzen, wo nicht
gar zerstören? Darf ich mich wundern, wenn
sie darüber leidet; wenn sie Schmerzen empfin-
det; wenn sie gar unfähig wird, ihre Verrichtun-
gen fortzusetzen, bis entweder das ihr nöthige Werk-
zeug wieder hergestellt ist, oder auch in solche Um-
stände kömmt, worinnen sie durch andre und viel-
leicht noch beßre Mittel ihrer Bestimmung genug-

thun

keinem Spiegel ſehen können, wenn er angelaufen
oder beſtäubt iſt. So wird meine Seele keine Ge-
danken vom Lichte erzeugen, keine Wahrheiten von
den Farben, von der Ordnung und Schönheit der
ſichtbaren Welt erkennen, wenn mein Auge nicht
die natürliche Beſchaffenheit hat, die es haben
ſoll. Mein Wille wird den Vorſatz, einen Un-
glücklichen in ſeinem Falle aufzuhalten, oder ihn
aus einer Grube herauszuziehen, nicht ausfüh-
ren können, wenn die Nerven meiner Hand durch
einen plötzlichen Zufall gelähmt werden. Ein
Künſtler wird misvergnügt, wenn die Werkzeuge
ſeiner Kunſt, ohne welche er ſeine Entwürfe nicht
ausführen kann, beſchädigt ſind; er wird auch
außer Stand geſetzt, wenn weder er noch ein an-
drer ſie wieder herſtellen kann, an ſeinen Werken
fortzuarbeiten. Darf ich mich denn verwundern,
wenn meine Seele Theil an den Veränderungen
nimmt, die ihrem Körper ſchaden, oder dieſen und
jenen nützlichen Theil deſſelben verletzen, wo nicht
gar zerſtören? Darf ich mich wundern, wenn
ſie darüber leidet; wenn ſie Schmerzen empfin-
det; wenn ſie gar unfähig wird, ihre Verrichtun-
gen fortzuſetzen, bis entweder das ihr nöthige Werk-
zeug wieder hergeſtellt iſt, oder auch in ſolche Um-
ſtände kömmt, worinnen ſie durch andre und viel-
leicht noch beßre Mittel ihrer Beſtimmung genug-

thun
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0313" n="299"/>
keinem Spiegel &#x017F;ehen können, wenn er angelaufen<lb/>
oder be&#x017F;täubt i&#x017F;t. So wird meine Seele keine Ge-<lb/>
danken vom Lichte erzeugen, keine Wahrheiten von<lb/>
den Farben, von der Ordnung und Schönheit der<lb/>
&#x017F;ichtbaren Welt erkennen, wenn mein Auge nicht<lb/>
die natürliche Be&#x017F;chaffenheit hat, die es haben<lb/>
&#x017F;oll. Mein Wille wird den Vor&#x017F;atz, einen Un-<lb/>
glücklichen in &#x017F;einem Falle aufzuhalten, oder ihn<lb/>
aus einer Grube herauszuziehen, nicht ausfüh-<lb/>
ren können, wenn die Nerven meiner Hand durch<lb/>
einen plötzlichen Zufall gelähmt werden. Ein<lb/>
Kün&#x017F;tler wird misvergnügt, wenn die Werkzeuge<lb/>
&#x017F;einer Kun&#x017F;t, ohne welche er &#x017F;eine Entwürfe nicht<lb/>
ausführen kann, be&#x017F;chädigt &#x017F;ind; er wird auch<lb/>
außer Stand ge&#x017F;etzt, wenn weder er noch ein an-<lb/>
drer &#x017F;ie wieder her&#x017F;tellen kann, an &#x017F;einen Werken<lb/>
fortzuarbeiten. Darf ich mich denn verwundern,<lb/>
wenn meine Seele Theil an den Veränderungen<lb/>
nimmt, die ihrem Körper &#x017F;chaden, oder die&#x017F;en und<lb/>
jenen nützlichen Theil de&#x017F;&#x017F;elben verletzen, wo nicht<lb/>
gar zer&#x017F;tören? Darf ich mich wundern, wenn<lb/>
&#x017F;ie darüber leidet; wenn &#x017F;ie Schmerzen empfin-<lb/>
det; wenn &#x017F;ie gar unfähig wird, ihre Verrichtun-<lb/>
gen fortzu&#x017F;etzen, bis entweder das ihr nöthige Werk-<lb/>
zeug wieder herge&#x017F;tellt i&#x017F;t, oder auch in &#x017F;olche Um-<lb/>
&#x017F;tände kömmt, worinnen &#x017F;ie durch andre und viel-<lb/>
leicht noch beßre Mittel ihrer Be&#x017F;timmung genug-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">thun</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[299/0313] keinem Spiegel ſehen können, wenn er angelaufen oder beſtäubt iſt. So wird meine Seele keine Ge- danken vom Lichte erzeugen, keine Wahrheiten von den Farben, von der Ordnung und Schönheit der ſichtbaren Welt erkennen, wenn mein Auge nicht die natürliche Beſchaffenheit hat, die es haben ſoll. Mein Wille wird den Vorſatz, einen Un- glücklichen in ſeinem Falle aufzuhalten, oder ihn aus einer Grube herauszuziehen, nicht ausfüh- ren können, wenn die Nerven meiner Hand durch einen plötzlichen Zufall gelähmt werden. Ein Künſtler wird misvergnügt, wenn die Werkzeuge ſeiner Kunſt, ohne welche er ſeine Entwürfe nicht ausführen kann, beſchädigt ſind; er wird auch außer Stand geſetzt, wenn weder er noch ein an- drer ſie wieder herſtellen kann, an ſeinen Werken fortzuarbeiten. Darf ich mich denn verwundern, wenn meine Seele Theil an den Veränderungen nimmt, die ihrem Körper ſchaden, oder dieſen und jenen nützlichen Theil deſſelben verletzen, wo nicht gar zerſtören? Darf ich mich wundern, wenn ſie darüber leidet; wenn ſie Schmerzen empfin- det; wenn ſie gar unfähig wird, ihre Verrichtun- gen fortzuſetzen, bis entweder das ihr nöthige Werk- zeug wieder hergeſtellt iſt, oder auch in ſolche Um- ſtände kömmt, worinnen ſie durch andre und viel- leicht noch beßre Mittel ihrer Beſtimmung genug- thun

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/313
Zitationshilfe: Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/313>, abgerufen am 26.06.2024.