sollte er heute Abend zu Lydia gehen? Es war doch eigentlich nicht der geringste Grund dazu vor- handen. Gewiß! Er wollte ihr im letzten Augen- blick noch abschreiben -- das war das Gescheiteste. Er konnte nicht für sich gutsagen. Er hatte die Empfindung, als müßte er heute Frau Lange gegen- über zu bizarr in seinem Betragen, zu willkürlich sein. Oder würde ihn die fremde, gewiß vornehme, in eigener Ordnung ausgebaute Umgebung doch ein- engen? Würde seine zwar nicht besonders große, aber noch immerhin genügende Fähigkeit: Cavalier, Gesellschafter zu sein, hervortreten, sobald er Lydia gegenüber stand? Er hatte ja schon, wie er sich äußerlich erinnerte, eine ganze Reihe derartiger Jongleurkunststücke fertig gebracht. Aber Hedwig? Hedwig? Wie stand er zu ihr? Liebte er sie? Er hatte sich allerdings sehr oft eingebildet, ein Weib zu lieben -- und er hatte sich für dasselbe schließ- lich nur interessirt, ganz beiläufig "interessirt". Er hatte Gefallen an ihm gefunden, irgend Etwas hatte ihn gereizt: schönes Haar; schöne Augen; graciöse Beweglichkeit des Oberkörpers; Halbfülle der Ge- stalt; ein kurzer, entschiedener Tritt; oder Naivetät des Herzens; das Parfum geistiger Selbständigkeit; Unbeholfenheit oder Schlagfertigkeit .. Vorurtheils- losigkeit .. Coquetterie .. ehrliche oder gemachte Verschämtheit .. oder so etwas Aehnliches .. Und Hedwig? Ja! Ja! Es wurde ihm mit bezwingender Deutlichkeit klar: er liebte sie -- liebte sie mit all' der Glut und Leidenschaft, deren er noch fähig
ſollte er heute Abend zu Lydia gehen? Es war doch eigentlich nicht der geringſte Grund dazu vor- handen. Gewiß! Er wollte ihr im letzten Augen- blick noch abſchreiben — das war das Geſcheiteſte. Er konnte nicht für ſich gutſagen. Er hatte die Empfindung, als müßte er heute Frau Lange gegen- über zu bizarr in ſeinem Betragen, zu willkürlich ſein. Oder würde ihn die fremde, gewiß vornehme, in eigener Ordnung ausgebaute Umgebung doch ein- engen? Würde ſeine zwar nicht beſonders große, aber noch immerhin genügende Fähigkeit: Cavalier, Geſellſchafter zu ſein, hervortreten, ſobald er Lydia gegenüber ſtand? Er hatte ja ſchon, wie er ſich äußerlich erinnerte, eine ganze Reihe derartiger Jongleurkunſtſtücke fertig gebracht. Aber Hedwig? Hedwig? Wie ſtand er zu ihr? Liebte er ſie? Er hatte ſich allerdings ſehr oft eingebildet, ein Weib zu lieben — und er hatte ſich für daſſelbe ſchließ- lich nur intereſſirt, ganz beiläufig „intereſſirt“. Er hatte Gefallen an ihm gefunden, irgend Etwas hatte ihn gereizt: ſchönes Haar; ſchöne Augen; graciöſe Beweglichkeit des Oberkörpers; Halbfülle der Ge- ſtalt; ein kurzer, entſchiedener Tritt; oder Naivetät des Herzens; das Parfum geiſtiger Selbſtändigkeit; Unbeholfenheit oder Schlagfertigkeit .. Vorurtheils- loſigkeit .. Coquetterie .. ehrliche oder gemachte Verſchämtheit .. oder ſo etwas Aehnliches .. Und Hedwig? Ja! Ja! Es wurde ihm mit bezwingender Deutlichkeit klar: er liebte ſie — liebte ſie mit all' der Glut und Leidenſchaft, deren er noch fähig
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ſollte er heute Abend zu Lydia gehen? Es war
doch eigentlich nicht der geringſte Grund dazu vor-
handen. Gewiß! Er wollte ihr im letzten Augen-
blick noch abſchreiben — das war das Geſcheiteſte.
Er konnte nicht für ſich gutſagen. Er hatte die
Empfindung, als müßte er heute Frau Lange gegen-
über zu bizarr in ſeinem Betragen, zu willkürlich
ſein. Oder würde ihn die fremde, gewiß vornehme,
in eigener Ordnung ausgebaute Umgebung doch ein-
engen? Würde ſeine zwar nicht beſonders große,
aber noch immerhin genügende Fähigkeit: Cavalier,
Geſellſchafter zu ſein, hervortreten, ſobald er Lydia
gegenüber ſtand? Er hatte ja ſchon, wie er ſich
äußerlich erinnerte, eine ganze Reihe derartiger
Jongleurkunſtſtücke fertig gebracht. Aber Hedwig?
Hedwig? Wie ſtand er zu ihr? Liebte er ſie? Er
hatte ſich allerdings ſehr oft eingebildet, ein Weib
zu lieben — und er hatte ſich für daſſelbe ſchließ-
lich nur intereſſirt, ganz beiläufig „intereſſirt“. Er
hatte Gefallen an ihm gefunden, irgend Etwas hatte
ihn gereizt: ſchönes Haar; ſchöne Augen; graciöſe
Beweglichkeit des Oberkörpers; Halbfülle der Ge-
ſtalt; ein kurzer, entſchiedener Tritt; oder Naivetät
des Herzens; das Parfum geiſtiger Selbſtändigkeit;
Unbeholfenheit oder Schlagfertigkeit .. Vorurtheils-
loſigkeit .. Coquetterie .. ehrliche oder gemachte
Verſchämtheit .. oder ſo etwas Aehnliches .. Und
Hedwig? Ja! Ja! Es wurde ihm mit bezwingender
Deutlichkeit klar: er liebte ſie — liebte ſie mit all'
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Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/133>, abgerufen am 21.11.2024.
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