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Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896.

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Bei der Reform des preußischen Staatswesens im Anfange
dieses Jahrhunderts hat nichts so tief eingeschnitten, wie die
Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Sie gehörte zu den
"Jdeen" der französischen Revolution. Scharnhorst verpflanzte
diese Jdee aus Frankreich in die preußische Armee. Das Heer
Friedrich's des Zweiten ruhte auf ganz anderen Grundlagen.
Der große König hatte bestimmt, daß Diejenigen, die einmal
Soldat gewesen, möglichst spät zu verabschieden seien, damit
dem Lande möglichst wenig junge Arbeitskraft entzogen würde.
Ganze Provinzen hatte er der Cantonspflicht entzogen, so zumal
die westlichen Provinzen, weil hier die friedliche Arbeitskraft
am kostbarsten war. Die Jdee, daß der Waffendienst eine
gemeine staatliche Pflicht sei, ist ihm niemals aufgegangen.
Der größere Theil der angeworbenen Ausländer, die einen
Haupttheil des Heeres bildeten, waren nach Scharnhorst's Worten
"Vagabunden, Trunkenbolde, Diebe, Taugenichtse und andere
Verbrecher aus ganz Deutschland".*) Als nun Scharnhorst
mit seinen Vorschlägen zur Umgestaltung des Heeres hervortrat,
verbaten sich nicht nur die pommerschen Landstände die all-
gemeine Wehrpflicht aufs Heftigste und bezeichneten sie als "ein
Resultat des französischen Schwindels von Freiheit und Gleich-
heit"; nicht nur König Friedrich Wilhelm III. verwarf die
allgemeine Wehrpflicht einmal auf das andere; auch die be-
deutendsten Köpfe eiferten dagegen. So sah Vincke darin das
Grab der Cultur, der Wissenschaften, der bürgerlichen Freiheit
und aller menschlichen Glückseligkeit. Niebuhr klagte, nur
Schwärmer könnten diese culturfeindliche, bei rohen Hauptleuten
ausgebrütete Jdee annehmen. Altenstein prophezeite, es werde

*) Max Lehmann, Scharnhorst, Bd. II, S. 72 ff. Vergl.
Bd. II, S. 98, 295 f., 334, 369.

Bei der Reform des preußischen Staatswesens im Anfange
dieses Jahrhunderts hat nichts so tief eingeschnitten, wie die
Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Sie gehörte zu den
„Jdeen“ der französischen Revolution. Scharnhorst verpflanzte
diese Jdee aus Frankreich in die preußische Armee. Das Heer
Friedrich's des Zweiten ruhte auf ganz anderen Grundlagen.
Der große König hatte bestimmt, daß Diejenigen, die einmal
Soldat gewesen, möglichst spät zu verabschieden seien, damit
dem Lande möglichst wenig junge Arbeitskraft entzogen würde.
Ganze Provinzen hatte er der Cantonspflicht entzogen, so zumal
die westlichen Provinzen, weil hier die friedliche Arbeitskraft
am kostbarsten war. Die Jdee, daß der Waffendienst eine
gemeine staatliche Pflicht sei, ist ihm niemals aufgegangen.
Der größere Theil der angeworbenen Ausländer, die einen
Haupttheil des Heeres bildeten, waren nach Scharnhorst's Worten
„Vagabunden, Trunkenbolde, Diebe, Taugenichtse und andere
Verbrecher aus ganz Deutschland“.*) Als nun Scharnhorst
mit seinen Vorschlägen zur Umgestaltung des Heeres hervortrat,
verbaten sich nicht nur die pommerschen Landstände die all-
gemeine Wehrpflicht aufs Heftigste und bezeichneten sie als „ein
Resultat des französischen Schwindels von Freiheit und Gleich-
heit“; nicht nur König Friedrich Wilhelm III. verwarf die
allgemeine Wehrpflicht einmal auf das andere; auch die be-
deutendsten Köpfe eiferten dagegen. So sah Vincke darin das
Grab der Cultur, der Wissenschaften, der bürgerlichen Freiheit
und aller menschlichen Glückseligkeit. Niebuhr klagte, nur
Schwärmer könnten diese culturfeindliche, bei rohen Hauptleuten
ausgebrütete Jdee annehmen. Altenstein prophezeite, es werde

*) Max Lehmann, Scharnhorst, Bd. II, S. 72 ff. Vergl.
Bd. II, S. 98, 295 f., 334, 369.
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[216/0232] Bei der Reform des preußischen Staatswesens im Anfange dieses Jahrhunderts hat nichts so tief eingeschnitten, wie die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Sie gehörte zu den „Jdeen“ der französischen Revolution. Scharnhorst verpflanzte diese Jdee aus Frankreich in die preußische Armee. Das Heer Friedrich's des Zweiten ruhte auf ganz anderen Grundlagen. Der große König hatte bestimmt, daß Diejenigen, die einmal Soldat gewesen, möglichst spät zu verabschieden seien, damit dem Lande möglichst wenig junge Arbeitskraft entzogen würde. Ganze Provinzen hatte er der Cantonspflicht entzogen, so zumal die westlichen Provinzen, weil hier die friedliche Arbeitskraft am kostbarsten war. Die Jdee, daß der Waffendienst eine gemeine staatliche Pflicht sei, ist ihm niemals aufgegangen. Der größere Theil der angeworbenen Ausländer, die einen Haupttheil des Heeres bildeten, waren nach Scharnhorst's Worten „Vagabunden, Trunkenbolde, Diebe, Taugenichtse und andere Verbrecher aus ganz Deutschland“. *) Als nun Scharnhorst mit seinen Vorschlägen zur Umgestaltung des Heeres hervortrat, verbaten sich nicht nur die pommerschen Landstände die all- gemeine Wehrpflicht aufs Heftigste und bezeichneten sie als „ein Resultat des französischen Schwindels von Freiheit und Gleich- heit“; nicht nur König Friedrich Wilhelm III. verwarf die allgemeine Wehrpflicht einmal auf das andere; auch die be- deutendsten Köpfe eiferten dagegen. So sah Vincke darin das Grab der Cultur, der Wissenschaften, der bürgerlichen Freiheit und aller menschlichen Glückseligkeit. Niebuhr klagte, nur Schwärmer könnten diese culturfeindliche, bei rohen Hauptleuten ausgebrütete Jdee annehmen. Altenstein prophezeite, es werde *) Max Lehmann, Scharnhorst, Bd. II, S. 72 ff. Vergl. Bd. II, S. 98, 295 f., 334, 369.

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Zitationshilfe: Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/232>, abgerufen am 03.05.2024.