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Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896.

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für die deutsche Verfassungsentwickelung große Verschiedenheiten
im Einzelnen bestehen, insbesondere solche Verschiedenheiten,
welche den Grad der staatsbürgerlichen Reife zur Theilnahme
an den öffentlichen Angelegenheiten bestimmen. Jn England
ist man stufenweise vorangeschritten auf dem Wege des freien
Staatswesens durch monarchische, aristokratische, demokratische
Entwickelungen hindurch, deren jede - zumal die demokratische
Entwickelung dieses Jahrhunderts - ihrerseits abgestuft war
in besonnenen Fortschritten der Verfassungsreform. Jn Deutsch-
land umgekehrt ist, nach einer lange durch widrige Geschicke
gehemmten Entwickelung, wie nach einem russischen Winter
plötzlich der heiße Sommer gefolgt, der die wesentlichen äußeren
Bestandtheile eines freien Verfassungswesens brachte; und die
schädlichen Folgen dieses unvermittelten Sprunges sind nicht
ausgeblieben. Wollen die Engländer und ihr coloniales Ge-
folge in der großen Völkerfamilie der Erde den Schritt ver-
suchen, an die demokratischen Stimmrechtsreformen der letzten
Jahrzehnte oder dasjenige der Art, was viel länger (wie in
den neuenglischen Ländern) besteht, die Erweiterung auf das
Frauenstimmrecht anzureihen, so sollen sie ihr Heil versuchen.
Wir hegen als Zuschauer das Vertrauen, daß sie die Staats-
weisheit in den inneren Reformen, die sie bisher ausgezeichnet,
auch dabei beweisen werden. Aber alles das, was sie uns hier
zeigen, lehrt uns gerade, wenn wir nicht mechanisch, sondern
mit historischem Verständniß ihr Beispiel befolgen wollen, uns
vor ferneren kühnen Sprüngen in der Entwickelung unserer
Wahlrechte zu hüten.

Jn dem Gebiete höherer Erziehung des weiblichen Ge-
schlechts bedeuten die Vorbilder Englands für uns etwas ganz
Anderes. Hier sind derartige Gegensätze, wie in dem Ver-
fassungsleben der beiden Reiche, gar nicht vorhanden. Hier

für die deutsche Verfassungsentwickelung große Verschiedenheiten
im Einzelnen bestehen, insbesondere solche Verschiedenheiten,
welche den Grad der staatsbürgerlichen Reife zur Theilnahme
an den öffentlichen Angelegenheiten bestimmen. Jn England
ist man stufenweise vorangeschritten auf dem Wege des freien
Staatswesens durch monarchische, aristokratische, demokratische
Entwickelungen hindurch, deren jede – zumal die demokratische
Entwickelung dieses Jahrhunderts – ihrerseits abgestuft war
in besonnenen Fortschritten der Verfassungsreform. Jn Deutsch-
land umgekehrt ist, nach einer lange durch widrige Geschicke
gehemmten Entwickelung, wie nach einem russischen Winter
plötzlich der heiße Sommer gefolgt, der die wesentlichen äußeren
Bestandtheile eines freien Verfassungswesens brachte; und die
schädlichen Folgen dieses unvermittelten Sprunges sind nicht
ausgeblieben. Wollen die Engländer und ihr coloniales Ge-
folge in der großen Völkerfamilie der Erde den Schritt ver-
suchen, an die demokratischen Stimmrechtsreformen der letzten
Jahrzehnte oder dasjenige der Art, was viel länger (wie in
den neuenglischen Ländern) besteht, die Erweiterung auf das
Frauenstimmrecht anzureihen, so sollen sie ihr Heil versuchen.
Wir hegen als Zuschauer das Vertrauen, daß sie die Staats-
weisheit in den inneren Reformen, die sie bisher ausgezeichnet,
auch dabei beweisen werden. Aber alles das, was sie uns hier
zeigen, lehrt uns gerade, wenn wir nicht mechanisch, sondern
mit historischem Verständniß ihr Beispiel befolgen wollen, uns
vor ferneren kühnen Sprüngen in der Entwickelung unserer
Wahlrechte zu hüten.

Jn dem Gebiete höherer Erziehung des weiblichen Ge-
schlechts bedeuten die Vorbilder Englands für uns etwas ganz
Anderes. Hier sind derartige Gegensätze, wie in dem Ver-
fassungsleben der beiden Reiche, gar nicht vorhanden. Hier

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[167/0183] für die deutsche Verfassungsentwickelung große Verschiedenheiten im Einzelnen bestehen, insbesondere solche Verschiedenheiten, welche den Grad der staatsbürgerlichen Reife zur Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten bestimmen. Jn England ist man stufenweise vorangeschritten auf dem Wege des freien Staatswesens durch monarchische, aristokratische, demokratische Entwickelungen hindurch, deren jede – zumal die demokratische Entwickelung dieses Jahrhunderts – ihrerseits abgestuft war in besonnenen Fortschritten der Verfassungsreform. Jn Deutsch- land umgekehrt ist, nach einer lange durch widrige Geschicke gehemmten Entwickelung, wie nach einem russischen Winter plötzlich der heiße Sommer gefolgt, der die wesentlichen äußeren Bestandtheile eines freien Verfassungswesens brachte; und die schädlichen Folgen dieses unvermittelten Sprunges sind nicht ausgeblieben. Wollen die Engländer und ihr coloniales Ge- folge in der großen Völkerfamilie der Erde den Schritt ver- suchen, an die demokratischen Stimmrechtsreformen der letzten Jahrzehnte oder dasjenige der Art, was viel länger (wie in den neuenglischen Ländern) besteht, die Erweiterung auf das Frauenstimmrecht anzureihen, so sollen sie ihr Heil versuchen. Wir hegen als Zuschauer das Vertrauen, daß sie die Staats- weisheit in den inneren Reformen, die sie bisher ausgezeichnet, auch dabei beweisen werden. Aber alles das, was sie uns hier zeigen, lehrt uns gerade, wenn wir nicht mechanisch, sondern mit historischem Verständniß ihr Beispiel befolgen wollen, uns vor ferneren kühnen Sprüngen in der Entwickelung unserer Wahlrechte zu hüten. Jn dem Gebiete höherer Erziehung des weiblichen Ge- schlechts bedeuten die Vorbilder Englands für uns etwas ganz Anderes. Hier sind derartige Gegensätze, wie in dem Ver- fassungsleben der beiden Reiche, gar nicht vorhanden. Hier

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Zitationshilfe: Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/183>, abgerufen am 20.04.2024.