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Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896.

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Hälften, in die alles Historische so oft auseinanderfällt zufolge
der subjectiven Ansicht seiner Betrachter. Die Einen sehen
allein das Gewordene, die Anderen allein das Werden. Die
Einen betonen das Recht der Vergangenheit, die Anderen das
Recht der Zukunft. Jn der Gegenwirkung gegen den Geist des
Revolutionszeitalters, die seit dem Anfange dieses Jahrhunderts
einsetzte, war es Sitte geworden, den unhistorischen Charakter
dieses Geistes zu verurtheilen. Unhistorisch war er indessen nur
im Sinne seiner Gegner; er vertrat in Wahrheit die andere
Hälfte des Historischen, die niemals stille stehende Umgestaltung
des geschichtlich Ueberkommenen. Die nach ihrer eigenen Mei-
nung ausschließlich historische Ansicht ist der Gefahr ausgesetzt,
am Alten haftend die Nothwendigkeit des Fortschritts zu ver-
kennen und damit die oberste Eigenschaft alles Geschichtlichen;
ihr Verständniß für das Bestehende entartet leicht zu einer
Stimmung, welche sich dem Neuen verschließt. Die vorwärts-
drängende Ansicht dagegen reißt sich von dem Bestehenden los
und eilt, ihr Jdeal möglichst schnell in die Wirklichkeit zu über-
tragen. Sie unterschätzt den Werth der bisherigen Erfahrungen,
sie sieht die Schwierigkeiten nicht, die es macht, das Neue mit
dem Alten zu vermitteln; sie mißachtet die Pflicht jeder ver-
ständigen Reform, an das bisher Gewordene schrittweise an-
zuknüpfen.

Hiermit hängt namentlich ein Gesichtspunkt zusammen, der,
wie für alle socialen und politischen Neuerungen, so auch für
die Frauenbewegung betont werden muß. Es ist die Ver-
schiedenheit der Fortschritte nach Land und Volk. Jnnerhalb
der Gemeinschaft des Culturlebens, welche zwischen den Völkern
europäischer Gesittung besteht, und welche zur Folge hat, daß
die großen Charakterzüge des Verfassungswesens, der Parteien,
der gesellschaftlichen Umgestaltungen eine unverkennbare Aehnlich-

Hälften, in die alles Historische so oft auseinanderfällt zufolge
der subjectiven Ansicht seiner Betrachter. Die Einen sehen
allein das Gewordene, die Anderen allein das Werden. Die
Einen betonen das Recht der Vergangenheit, die Anderen das
Recht der Zukunft. Jn der Gegenwirkung gegen den Geist des
Revolutionszeitalters, die seit dem Anfange dieses Jahrhunderts
einsetzte, war es Sitte geworden, den unhistorischen Charakter
dieses Geistes zu verurtheilen. Unhistorisch war er indessen nur
im Sinne seiner Gegner; er vertrat in Wahrheit die andere
Hälfte des Historischen, die niemals stille stehende Umgestaltung
des geschichtlich Ueberkommenen. Die nach ihrer eigenen Mei-
nung ausschließlich historische Ansicht ist der Gefahr ausgesetzt,
am Alten haftend die Nothwendigkeit des Fortschritts zu ver-
kennen und damit die oberste Eigenschaft alles Geschichtlichen;
ihr Verständniß für das Bestehende entartet leicht zu einer
Stimmung, welche sich dem Neuen verschließt. Die vorwärts-
drängende Ansicht dagegen reißt sich von dem Bestehenden los
und eilt, ihr Jdeal möglichst schnell in die Wirklichkeit zu über-
tragen. Sie unterschätzt den Werth der bisherigen Erfahrungen,
sie sieht die Schwierigkeiten nicht, die es macht, das Neue mit
dem Alten zu vermitteln; sie mißachtet die Pflicht jeder ver-
ständigen Reform, an das bisher Gewordene schrittweise an-
zuknüpfen.

Hiermit hängt namentlich ein Gesichtspunkt zusammen, der,
wie für alle socialen und politischen Neuerungen, so auch für
die Frauenbewegung betont werden muß. Es ist die Ver-
schiedenheit der Fortschritte nach Land und Volk. Jnnerhalb
der Gemeinschaft des Culturlebens, welche zwischen den Völkern
europäischer Gesittung besteht, und welche zur Folge hat, daß
die großen Charakterzüge des Verfassungswesens, der Parteien,
der gesellschaftlichen Umgestaltungen eine unverkennbare Aehnlich-

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[106/0122] Hälften, in die alles Historische so oft auseinanderfällt zufolge der subjectiven Ansicht seiner Betrachter. Die Einen sehen allein das Gewordene, die Anderen allein das Werden. Die Einen betonen das Recht der Vergangenheit, die Anderen das Recht der Zukunft. Jn der Gegenwirkung gegen den Geist des Revolutionszeitalters, die seit dem Anfange dieses Jahrhunderts einsetzte, war es Sitte geworden, den unhistorischen Charakter dieses Geistes zu verurtheilen. Unhistorisch war er indessen nur im Sinne seiner Gegner; er vertrat in Wahrheit die andere Hälfte des Historischen, die niemals stille stehende Umgestaltung des geschichtlich Ueberkommenen. Die nach ihrer eigenen Mei- nung ausschließlich historische Ansicht ist der Gefahr ausgesetzt, am Alten haftend die Nothwendigkeit des Fortschritts zu ver- kennen und damit die oberste Eigenschaft alles Geschichtlichen; ihr Verständniß für das Bestehende entartet leicht zu einer Stimmung, welche sich dem Neuen verschließt. Die vorwärts- drängende Ansicht dagegen reißt sich von dem Bestehenden los und eilt, ihr Jdeal möglichst schnell in die Wirklichkeit zu über- tragen. Sie unterschätzt den Werth der bisherigen Erfahrungen, sie sieht die Schwierigkeiten nicht, die es macht, das Neue mit dem Alten zu vermitteln; sie mißachtet die Pflicht jeder ver- ständigen Reform, an das bisher Gewordene schrittweise an- zuknüpfen. Hiermit hängt namentlich ein Gesichtspunkt zusammen, der, wie für alle socialen und politischen Neuerungen, so auch für die Frauenbewegung betont werden muß. Es ist die Ver- schiedenheit der Fortschritte nach Land und Volk. Jnnerhalb der Gemeinschaft des Culturlebens, welche zwischen den Völkern europäischer Gesittung besteht, und welche zur Folge hat, daß die großen Charakterzüge des Verfassungswesens, der Parteien, der gesellschaftlichen Umgestaltungen eine unverkennbare Aehnlich-

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Zitationshilfe: Cohn, Gustav: Die deutsche Frauenbewegung. Berlin, 1896, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cohn_frauenbewegung_1896/122>, abgerufen am 05.12.2024.