Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_705.001 p2c_705.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0229" n="705"/><lb n="p2c_705.001"/> so verstehn, als ob das ganze <hi rendition="#g">poetische</hi> Wesen des didaktischen <lb n="p2c_705.002"/> Gedichts nur im <hi rendition="#g">Styl</hi> läge, und dieser Jrrthum <lb n="p2c_705.003"/> ist nicht viel besser, wie jener der alten Kritiker, welche <lb n="p2c_705.004"/> dasselbe in die <hi rendition="#g">Versification</hi> setzen. Ungeachtet der <lb n="p2c_705.005"/> <hi rendition="#g">Gegenstand</hi> des <hi rendition="#g">Lehrgedichts</hi> aus abstracten Wahrheiten <lb n="p2c_705.006"/> besteht, so ist er doch schon an sich eben so <hi rendition="#g">poetisch,</hi> <lb n="p2c_705.007"/> als wenn er eine Handlung, eine Empfindung wäre. <lb n="p2c_705.008"/> Denn diese abstracten Wahrheiten haben, zumal beym höhern <lb n="p2c_705.009"/> Lehrgedicht, den genauesten Zusammenhang mit der Bestimmung <lb n="p2c_705.010"/> des Menschen, mit allem, was ihm theuer und heilig <lb n="p2c_705.011"/> ist. Kein wahrhaft großer Philosoph hat ohne Gefühl geschrieben, <lb n="p2c_705.012"/> dies beweisen Plato, Spinoza und Leibnitz. Freylich <lb n="p2c_705.013"/> muß aber der Lehrdichter sein System von der poetischen <lb n="p2c_705.014"/> Seite darzustellen wissen. Diese Darstellung besteht nun <lb n="p2c_705.015"/> nicht in einem überflüssigen <hi rendition="#aq">ornatus</hi>, sondern in der <hi rendition="#g">Art,</hi> <lb n="p2c_705.016"/> wie die Seele ihre abstracten Jdeen <hi rendition="#g">auffindet,</hi> an einander <lb n="p2c_705.017"/> <hi rendition="#g">reiht,</hi> mit ihren Empfindungen und Phantasieen in <lb n="p2c_705.018"/> Verbindungen bringt. Der Lehrdichter muß sich als ein <lb n="p2c_705.019"/> leidenschaftlicher oder zufälliger Erfinder zeigen, der das <lb n="p2c_705.020"/> System wie aus Nichts, vor unsern Augen entstehen läßt, <lb n="p2c_705.021"/> doch muß er es nicht aus Grundsätzen förmlich deduciren wollen. <lb n="p2c_705.022"/> Der Apfel des Newton, das Blatt, welches Leibnitz <lb n="p2c_705.023"/> findet, aus dem er das <hi rendition="#aq">principium indiscernibilium</hi> <lb n="p2c_705.024"/> herleitet, gehört ganz eigentlich in das Lehrgedicht. ─ <lb n="p2c_705.025"/> Hierdurch wird auch am meisten das andere Haupterforderniß, <lb n="p2c_705.026"/> daß alles, wie Heyne sagt, <hi rendition="#aq">ad vivum</hi> repräsentirt <lb n="p2c_705.027"/> seyn muß, bewirkt. Denn die Erfinder gehn allemal vom <lb n="p2c_705.028"/> Anschaulichen aus.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [705/0229]
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so verstehn, als ob das ganze poetische Wesen des didaktischen p2c_705.002
Gedichts nur im Styl läge, und dieser Jrrthum p2c_705.003
ist nicht viel besser, wie jener der alten Kritiker, welche p2c_705.004
dasselbe in die Versification setzen. Ungeachtet der p2c_705.005
Gegenstand des Lehrgedichts aus abstracten Wahrheiten p2c_705.006
besteht, so ist er doch schon an sich eben so poetisch, p2c_705.007
als wenn er eine Handlung, eine Empfindung wäre. p2c_705.008
Denn diese abstracten Wahrheiten haben, zumal beym höhern p2c_705.009
Lehrgedicht, den genauesten Zusammenhang mit der Bestimmung p2c_705.010
des Menschen, mit allem, was ihm theuer und heilig p2c_705.011
ist. Kein wahrhaft großer Philosoph hat ohne Gefühl geschrieben, p2c_705.012
dies beweisen Plato, Spinoza und Leibnitz. Freylich p2c_705.013
muß aber der Lehrdichter sein System von der poetischen p2c_705.014
Seite darzustellen wissen. Diese Darstellung besteht nun p2c_705.015
nicht in einem überflüssigen ornatus, sondern in der Art, p2c_705.016
wie die Seele ihre abstracten Jdeen auffindet, an einander p2c_705.017
reiht, mit ihren Empfindungen und Phantasieen in p2c_705.018
Verbindungen bringt. Der Lehrdichter muß sich als ein p2c_705.019
leidenschaftlicher oder zufälliger Erfinder zeigen, der das p2c_705.020
System wie aus Nichts, vor unsern Augen entstehen läßt, p2c_705.021
doch muß er es nicht aus Grundsätzen förmlich deduciren wollen. p2c_705.022
Der Apfel des Newton, das Blatt, welches Leibnitz p2c_705.023
findet, aus dem er das principium indiscernibilium p2c_705.024
herleitet, gehört ganz eigentlich in das Lehrgedicht. ─ p2c_705.025
Hierdurch wird auch am meisten das andere Haupterforderniß, p2c_705.026
daß alles, wie Heyne sagt, ad vivum repräsentirt p2c_705.027
seyn muß, bewirkt. Denn die Erfinder gehn allemal vom p2c_705.028
Anschaulichen aus.
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