Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_704.001 p2c_704.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0228" n="704"/><lb n="p2c_704.001"/><hi rendition="#g">poetisch.</hi> Also muß es Lehrdichter geben. Der <lb n="p2c_704.002"/> Verstand, der die Totalität des Daseyns zu umfassen sucht, <lb n="p2c_704.003"/> muß sich ebenfalls zu idealisiren streben. Quinctilian scheint <lb n="p2c_704.004"/> den Lehrdichtern, besonders dem Lucretins auch nicht sehr <lb n="p2c_704.005"/> hold zu seyn. Allein daß die Hauptidee von Lucrez <hi rendition="#g">poetisch</hi> <lb n="p2c_704.006"/> sey, zeigt schon der Anfang, der Anruf an die Venus, <lb n="p2c_704.007"/> deren Zauberkraft das All der Dinge erhält, und die <lb n="p2c_704.008"/> hohe Begeisterung, mit welcher er von der Weisheit, von <lb n="p2c_704.009"/> der Erkenntniß der Weltursachen, u. s. w. spricht. Wenn <lb n="p2c_704.010"/> so ein großer Dichter, wie Lucrez, vom Empedocles sagt, <lb n="p2c_704.011"/> <hi rendition="#aq">vt vix humana videatur stirpe creatus</hi>, wenn er ihn <lb n="p2c_704.012"/> sich zum Vorbild wählt, so kann auch Empedocles kein <lb n="p2c_704.013"/> bloßer Versificateur gewesen seyn. ─ Vom Aratus sagt <lb n="p2c_704.014"/> Quinctilian, seine Materie sey ohne Jnteresse (<hi rendition="#aq">sine motu</hi>). <lb n="p2c_704.015"/> Cicero, der jenen Dichter übersetzte, lobt dessen Verse, (<hi rendition="#aq">eum <lb n="p2c_704.016"/> ornatissimis atque optimis versibus scripsisse</hi>.) ─ <lb n="p2c_704.017"/> Ovid, der in seinen Gedichten fast vor allen Dichtern Verbeugungen <lb n="p2c_704.018"/> macht, hält das erhabene Gedicht des Lucretius <lb n="p2c_704.019"/> so unvergänglich, wie die Welt. Jndeß begeht freylich Lucretius <lb n="p2c_704.020"/> in einzelnen Stellen den Fehler, daß er seine Wahrheiten <lb n="p2c_704.021"/> mehr synthetisch und abstract, als analytisch vorträgt, <lb n="p2c_704.022"/> und zu wenig auf Anschaulichkeit und Styl Rücksicht nimmt. <lb n="p2c_704.023"/> ─ Aus den im §. aufgestellten Grundsätzen erhellt auch, <lb n="p2c_704.024"/> daß Heyne sich nicht ganz richtig ausdrückt, wann er in seinem <lb n="p2c_704.025"/> <hi rendition="#aq">Prooemium ad Georgica</hi> sagt: <hi rendition="#aq">summa vis carminis <lb n="p2c_704.026"/> didactici in <hi rendition="#g">ornatu</hi> posita videtur</hi>. Freylich rechnet <lb n="p2c_704.027"/> er hernach zum <hi rendition="#aq">ornatus</hi> fast die ganze Behandlung des <lb n="p2c_704.028"/> Themas. Allein man könnte dieses den Worten nach doch </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [704/0228]
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poetisch. Also muß es Lehrdichter geben. Der p2c_704.002
Verstand, der die Totalität des Daseyns zu umfassen sucht, p2c_704.003
muß sich ebenfalls zu idealisiren streben. Quinctilian scheint p2c_704.004
den Lehrdichtern, besonders dem Lucretins auch nicht sehr p2c_704.005
hold zu seyn. Allein daß die Hauptidee von Lucrez poetisch p2c_704.006
sey, zeigt schon der Anfang, der Anruf an die Venus, p2c_704.007
deren Zauberkraft das All der Dinge erhält, und die p2c_704.008
hohe Begeisterung, mit welcher er von der Weisheit, von p2c_704.009
der Erkenntniß der Weltursachen, u. s. w. spricht. Wenn p2c_704.010
so ein großer Dichter, wie Lucrez, vom Empedocles sagt, p2c_704.011
vt vix humana videatur stirpe creatus, wenn er ihn p2c_704.012
sich zum Vorbild wählt, so kann auch Empedocles kein p2c_704.013
bloßer Versificateur gewesen seyn. ─ Vom Aratus sagt p2c_704.014
Quinctilian, seine Materie sey ohne Jnteresse (sine motu). p2c_704.015
Cicero, der jenen Dichter übersetzte, lobt dessen Verse, (eum p2c_704.016
ornatissimis atque optimis versibus scripsisse.) ─ p2c_704.017
Ovid, der in seinen Gedichten fast vor allen Dichtern Verbeugungen p2c_704.018
macht, hält das erhabene Gedicht des Lucretius p2c_704.019
so unvergänglich, wie die Welt. Jndeß begeht freylich Lucretius p2c_704.020
in einzelnen Stellen den Fehler, daß er seine Wahrheiten p2c_704.021
mehr synthetisch und abstract, als analytisch vorträgt, p2c_704.022
und zu wenig auf Anschaulichkeit und Styl Rücksicht nimmt. p2c_704.023
─ Aus den im §. aufgestellten Grundsätzen erhellt auch, p2c_704.024
daß Heyne sich nicht ganz richtig ausdrückt, wann er in seinem p2c_704.025
Prooemium ad Georgica sagt: summa vis carminis p2c_704.026
didactici in ornatu posita videtur. Freylich rechnet p2c_704.027
er hernach zum ornatus fast die ganze Behandlung des p2c_704.028
Themas. Allein man könnte dieses den Worten nach doch
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