Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p2c_599.001
. - Auch dürfen die Dichter nicht etwa den Charakter p2c_599.002
im bloßen äußerlichen Betragen setzen. Manche dramatische p2c_599.003
Dichter glauben schon alles gethan zu haben, wenn p2c_599.004
sie einen Gecken, eine stolze Adliche Französisch reden lassen, p2c_599.005
wenn der Eilfertige eilig ist, der Schwätzer schwatzt, der p2c_599.006
Lügner lügt u. s. w. Alsdann nähert sich das Lustspiel p2c_599.007
schon mehr der Posse. - Wenn es zur psychologischen p2c_599.008
Wahrscheinlichkeit gehört, daß der Charakter sich p2c_599.009
treu bleibe, so ist damit nicht gesagt, daß er seinen Entschlüssen p2c_599.010
treu bleibe. Er kann sich umstimmen lassen, wie p2c_599.011
Makbeth, wie Clavigo. Nur muß die Möglichkeit dieser p2c_599.012
Veränderung in seinen Neigungen begründet seyn. - Was p2c_599.013
nun die kosmische Wahrscheinlichkeit, d. h. den p2c_599.014
Zusammenhang der Begebenheiten betrifft, so versteht es p2c_599.015
sich, daß man sie mit der physischen nicht verwechseln p2c_599.016
müsse. Der Dichter hat seine eigne Welt, die von der p2c_599.017
natürlichen ganz verschieden ist. Hat er das Wunderbare p2c_599.018
in dieselbe aufgenommen, so kann er es auch p2c_599.019
wirken lassen. Nur darf er es sich auch hier nicht zu leicht p2c_599.020
machen, und durch keinen Deus ex machina ganz unerwartet p2c_599.021
das Schicksal lenken lassen. - Jupiter beym Homer p2c_599.022
wägt zwar das Loos der Helden. Es ist aber der p2c_599.023
Ausgang nicht seiner Willkühr, sondern dem Schicksal unterworfen, p2c_599.024
welches seinen festen Gang fortgeht. - Wenn p2c_599.025
Wieland den Hüon auf dem Arme eines Geistes von der p2c_599.026
wüsten Jnsel dahin tragen läßt, wo Amanda ist, so ist dies p2c_599.027
ein wenig gewaltsam. Denn es ist durch nichts vorbereitet. p2c_599.028
Es scheint mehr eine Aushülfe zu seyn. Oberon lenkt das

p2c_599.001
. ─ Auch dürfen die Dichter nicht etwa den Charakter p2c_599.002
im bloßen äußerlichen Betragen setzen. Manche dramatische p2c_599.003
Dichter glauben schon alles gethan zu haben, wenn p2c_599.004
sie einen Gecken, eine stolze Adliche Französisch reden lassen, p2c_599.005
wenn der Eilfertige eilig ist, der Schwätzer schwatzt, der p2c_599.006
Lügner lügt u. s. w. Alsdann nähert sich das Lustspiel p2c_599.007
schon mehr der Posse. ─ Wenn es zur psychologischen p2c_599.008
Wahrscheinlichkeit gehört, daß der Charakter sich p2c_599.009
treu bleibe, so ist damit nicht gesagt, daß er seinen Entschlüssen p2c_599.010
treu bleibe. Er kann sich umstimmen lassen, wie p2c_599.011
Makbeth, wie Clavigo. Nur muß die Möglichkeit dieser p2c_599.012
Veränderung in seinen Neigungen begründet seyn. ─ Was p2c_599.013
nun die kosmische Wahrscheinlichkeit, d. h. den p2c_599.014
Zusammenhang der Begebenheiten betrifft, so versteht es p2c_599.015
sich, daß man sie mit der physischen nicht verwechseln p2c_599.016
müsse. Der Dichter hat seine eigne Welt, die von der p2c_599.017
natürlichen ganz verschieden ist. Hat er das Wunderbare p2c_599.018
in dieselbe aufgenommen, so kann er es auch p2c_599.019
wirken lassen. Nur darf er es sich auch hier nicht zu leicht p2c_599.020
machen, und durch keinen Deus ex machina ganz unerwartet p2c_599.021
das Schicksal lenken lassen. ─ Jupiter beym Homer p2c_599.022
wägt zwar das Loos der Helden. Es ist aber der p2c_599.023
Ausgang nicht seiner Willkühr, sondern dem Schicksal unterworfen, p2c_599.024
welches seinen festen Gang fortgeht. ─ Wenn p2c_599.025
Wieland den Hüon auf dem Arme eines Geistes von der p2c_599.026
wüsten Jnsel dahin tragen läßt, wo Amanda ist, so ist dies p2c_599.027
ein wenig gewaltsam. Denn es ist durch nichts vorbereitet. p2c_599.028
Es scheint mehr eine Aushülfe zu seyn. Oberon lenkt das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0123" n="599"/><lb n="p2c_599.001"/>
. &#x2500; Auch dürfen die Dichter nicht etwa den Charakter <lb n="p2c_599.002"/>
im bloßen <hi rendition="#g">äußerlichen</hi> Betragen setzen. Manche dramatische <lb n="p2c_599.003"/>
Dichter glauben schon alles gethan zu haben, wenn <lb n="p2c_599.004"/>
sie einen Gecken, eine stolze Adliche Französisch reden lassen, <lb n="p2c_599.005"/>
wenn der Eilfertige eilig ist, der Schwätzer schwatzt, der <lb n="p2c_599.006"/>
Lügner lügt u. s. w. Alsdann nähert sich das Lustspiel <lb n="p2c_599.007"/>
schon mehr der Posse. &#x2500; Wenn es zur <hi rendition="#g">psychologischen</hi> <lb n="p2c_599.008"/>
Wahrscheinlichkeit gehört, daß der Charakter sich <lb n="p2c_599.009"/>
treu bleibe, so ist damit nicht gesagt, daß er seinen Entschlüssen <lb n="p2c_599.010"/>
treu bleibe. Er kann sich umstimmen lassen, wie <lb n="p2c_599.011"/>
Makbeth, wie Clavigo. Nur muß die Möglichkeit dieser <lb n="p2c_599.012"/>
Veränderung in seinen Neigungen begründet seyn. &#x2500; Was <lb n="p2c_599.013"/>
nun die <hi rendition="#g">kosmische Wahrscheinlichkeit,</hi> d. h. den <lb n="p2c_599.014"/>
Zusammenhang der Begebenheiten betrifft, so versteht es <lb n="p2c_599.015"/>
sich, daß man sie mit der <hi rendition="#g">physischen</hi> nicht verwechseln <lb n="p2c_599.016"/>
müsse. Der Dichter hat seine eigne Welt, die von der <lb n="p2c_599.017"/> <hi rendition="#g">natürlichen</hi> ganz verschieden ist. Hat er das <hi rendition="#g">Wunderbare</hi> <lb n="p2c_599.018"/>
in dieselbe aufgenommen, so kann er es auch <lb n="p2c_599.019"/>
wirken lassen. Nur darf er es sich auch hier nicht zu leicht <lb n="p2c_599.020"/>
machen, und durch keinen <hi rendition="#aq">Deus ex machina</hi> ganz unerwartet <lb n="p2c_599.021"/>
das Schicksal lenken lassen. &#x2500; Jupiter beym Homer <lb n="p2c_599.022"/>
wägt zwar das Loos der Helden. Es ist aber der <lb n="p2c_599.023"/>
Ausgang nicht seiner Willkühr, sondern dem Schicksal unterworfen, <lb n="p2c_599.024"/>
welches seinen festen Gang fortgeht. &#x2500; Wenn <lb n="p2c_599.025"/>
Wieland den Hüon auf dem Arme eines Geistes von der <lb n="p2c_599.026"/>
wüsten Jnsel dahin tragen läßt, wo Amanda ist, so ist dies <lb n="p2c_599.027"/>
ein wenig gewaltsam. Denn es ist durch nichts vorbereitet. <lb n="p2c_599.028"/>
Es scheint mehr eine Aushülfe zu seyn. Oberon lenkt das
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[599/0123] p2c_599.001 . ─ Auch dürfen die Dichter nicht etwa den Charakter p2c_599.002 im bloßen äußerlichen Betragen setzen. Manche dramatische p2c_599.003 Dichter glauben schon alles gethan zu haben, wenn p2c_599.004 sie einen Gecken, eine stolze Adliche Französisch reden lassen, p2c_599.005 wenn der Eilfertige eilig ist, der Schwätzer schwatzt, der p2c_599.006 Lügner lügt u. s. w. Alsdann nähert sich das Lustspiel p2c_599.007 schon mehr der Posse. ─ Wenn es zur psychologischen p2c_599.008 Wahrscheinlichkeit gehört, daß der Charakter sich p2c_599.009 treu bleibe, so ist damit nicht gesagt, daß er seinen Entschlüssen p2c_599.010 treu bleibe. Er kann sich umstimmen lassen, wie p2c_599.011 Makbeth, wie Clavigo. Nur muß die Möglichkeit dieser p2c_599.012 Veränderung in seinen Neigungen begründet seyn. ─ Was p2c_599.013 nun die kosmische Wahrscheinlichkeit, d. h. den p2c_599.014 Zusammenhang der Begebenheiten betrifft, so versteht es p2c_599.015 sich, daß man sie mit der physischen nicht verwechseln p2c_599.016 müsse. Der Dichter hat seine eigne Welt, die von der p2c_599.017 natürlichen ganz verschieden ist. Hat er das Wunderbare p2c_599.018 in dieselbe aufgenommen, so kann er es auch p2c_599.019 wirken lassen. Nur darf er es sich auch hier nicht zu leicht p2c_599.020 machen, und durch keinen Deus ex machina ganz unerwartet p2c_599.021 das Schicksal lenken lassen. ─ Jupiter beym Homer p2c_599.022 wägt zwar das Loos der Helden. Es ist aber der p2c_599.023 Ausgang nicht seiner Willkühr, sondern dem Schicksal unterworfen, p2c_599.024 welches seinen festen Gang fortgeht. ─ Wenn p2c_599.025 Wieland den Hüon auf dem Arme eines Geistes von der p2c_599.026 wüsten Jnsel dahin tragen läßt, wo Amanda ist, so ist dies p2c_599.027 ein wenig gewaltsam. Denn es ist durch nichts vorbereitet. p2c_599.028 Es scheint mehr eine Aushülfe zu seyn. Oberon lenkt das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/123
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 599. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/123>, abgerufen am 02.05.2024.