Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_597.001 p2c_597.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0121" n="597"/><lb n="p2c_597.001"/> müssen sich begreiflich auf die Hauptbegebenheit <lb n="p2c_597.002"/> beziehn. Sind also zu viel und zu mannichfaltig verwickelte <lb n="p2c_597.003"/> Begebenheiten aufgehäuft, die an der Leichtigkeit des <lb n="p2c_597.004"/> Begreifens hindern, so ist dies ein Fehler. Fehlerhaft ist <lb n="p2c_597.005"/> also hierinnen das Gedicht des <hi rendition="#g">Ariost,</hi> wenn gleich dessen <lb n="p2c_597.006"/> romantischer Charakter ein größeres Herumschweifen der <lb n="p2c_597.007"/> Phantasie entschuldigt. Denn es ist nicht anders möglich, <lb n="p2c_597.008"/> als daß man die Schicksale des einen Ritters über den Schicksalen <lb n="p2c_597.009"/> des andern vergesse. Zumal da die Erzählung unaufhörlich <lb n="p2c_597.010"/> unterbrochen wird. Fehlerhaft sind Trauerspiele, <lb n="p2c_597.011"/> wie das des Corneille Clitandre im altspanischen Geschmack, <lb n="p2c_597.012"/> wegen der zu vielen Nebenpersonen, Nebenintriguen, Vertrauten <lb n="p2c_597.013"/> u. s. w. ─ Die <hi rendition="#g">Wahrscheinlichkeit,</hi> welche <lb n="p2c_597.014"/> für eine poetische Handlung verlangt wird, ist doppelt. <lb n="p2c_597.015"/> Es bedarf das historische Gedicht einer <hi rendition="#g">psychologischen</hi> <lb n="p2c_597.016"/> und einer <hi rendition="#g">kosmischen</hi> Wahrscheinlichkeit. Denn wenn <lb n="p2c_597.017"/> eine <hi rendition="#g">Handlung</hi> begriffen, logisch vollkommen erklärt <lb n="p2c_597.018"/> werden soll, muß man die <hi rendition="#g">Gründe</hi> theils in den <hi rendition="#g">Charakteren</hi> <lb n="p2c_597.019"/> der Denk- und Handlungsweise der Personen, <lb n="p2c_597.020"/> theils in der kosmischen Verbindung der <hi rendition="#g">Begebenheiten</hi> <lb n="p2c_597.021"/> aufsuchen. Die <hi rendition="#g">Handlung</hi> als <hi rendition="#g">Willensthätigkeit</hi> <lb n="p2c_597.022"/> muß zugleich ein lebendes Sittengemälde seyn (<foreign xml:lang="grc">διανοια</foreign> und <lb n="p2c_597.023"/> <foreign xml:lang="grc">ἠθος</foreign> sind die psychologischen Ursachen der Willensthätigkeit). <lb n="p2c_597.024"/> Die <hi rendition="#g">Charaktere</hi> können also <hi rendition="#g">idealisirt,</hi> aber <lb n="p2c_597.025"/> sie müssen <hi rendition="#g">wahrscheinlich,</hi> und ihren Handlungen angemessen <lb n="p2c_597.026"/> seyn. Da der Charakter im Menschen bleibend ist, <lb n="p2c_597.027"/> so muß er sich auch durch die ganze Handlung treu bleiben, <lb n="p2c_597.028"/> d. h. er muß gut durchgeführt seyn. ─ Rein vollkommne </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [597/0121]
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müssen sich begreiflich auf die Hauptbegebenheit p2c_597.002
beziehn. Sind also zu viel und zu mannichfaltig verwickelte p2c_597.003
Begebenheiten aufgehäuft, die an der Leichtigkeit des p2c_597.004
Begreifens hindern, so ist dies ein Fehler. Fehlerhaft ist p2c_597.005
also hierinnen das Gedicht des Ariost, wenn gleich dessen p2c_597.006
romantischer Charakter ein größeres Herumschweifen der p2c_597.007
Phantasie entschuldigt. Denn es ist nicht anders möglich, p2c_597.008
als daß man die Schicksale des einen Ritters über den Schicksalen p2c_597.009
des andern vergesse. Zumal da die Erzählung unaufhörlich p2c_597.010
unterbrochen wird. Fehlerhaft sind Trauerspiele, p2c_597.011
wie das des Corneille Clitandre im altspanischen Geschmack, p2c_597.012
wegen der zu vielen Nebenpersonen, Nebenintriguen, Vertrauten p2c_597.013
u. s. w. ─ Die Wahrscheinlichkeit, welche p2c_597.014
für eine poetische Handlung verlangt wird, ist doppelt. p2c_597.015
Es bedarf das historische Gedicht einer psychologischen p2c_597.016
und einer kosmischen Wahrscheinlichkeit. Denn wenn p2c_597.017
eine Handlung begriffen, logisch vollkommen erklärt p2c_597.018
werden soll, muß man die Gründe theils in den Charakteren p2c_597.019
der Denk- und Handlungsweise der Personen, p2c_597.020
theils in der kosmischen Verbindung der Begebenheiten p2c_597.021
aufsuchen. Die Handlung als Willensthätigkeit p2c_597.022
muß zugleich ein lebendes Sittengemälde seyn (διανοια und p2c_597.023
ἠθος sind die psychologischen Ursachen der Willensthätigkeit). p2c_597.024
Die Charaktere können also idealisirt, aber p2c_597.025
sie müssen wahrscheinlich, und ihren Handlungen angemessen p2c_597.026
seyn. Da der Charakter im Menschen bleibend ist, p2c_597.027
so muß er sich auch durch die ganze Handlung treu bleiben, p2c_597.028
d. h. er muß gut durchgeführt seyn. ─ Rein vollkommne
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