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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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des Tons aufhalten. Dennoch werden sich Völker, die p1c_387.002
mehr auf den Sinn als auf den Laut sehen, schwerlich an p1c_387.003
die Position gewöhnen können, und mit Recht. Zumal bey p1c_387.004
gelindern Consonanten würde ihnen das Verlängern unausstehlich p1c_387.005
vorkommen. Klopstock fragt, welcher Deutsche p1c_387.006
einen Hexameter aushalten würde, wie folgender ist: "Liebender p1c_387.007
sangen verborgene Nachtigallen." Antwort: Keiner. p1c_387.008
Warum? Fürs erste ist die Position, wenn liquidae, p1c_387.009
wie n und r, unter den Consonanten sind, schon weniger p1c_387.010
natürliche Regel. Die Sprache sey welche sie wolle, p1c_387.011
so wird doch hier die Sylbe kürzer seyn, als in andern Fällen. p1c_387.012
Fürs zweyte ist ja doch die Sprache, selbst beym Dichter, p1c_387.013
nicht des Tons, sondern des Sinnes wegen da, und p1c_387.014
eine Langsamkeit in der Aussprache bey Sylben, die nichts p1c_387.015
bedeuten, muß geziert vorkommen. Mögen die ältern Sprachen p1c_387.016
musikalischer seyn durch ihre Position, die neuern sind p1c_387.017
mehr für den Geist. Ueberhaupt ist es noch sehr die Frage, p1c_387.018
ob es nicht vielmehr selbst ein musikalischer Reichthum ist, p1c_387.019
lange, kürzere, und kurze Sylben zu haben, als bestimmt p1c_387.020
lange und bestimmt kurze. So wenig man in der Musik p1c_387.021
im Takte blos Viertel und Achtel hat, so wenig kann irgend p1c_387.022
eine Sprache der Welt hier genau messen. Vielleicht ist es p1c_387.023
gar blos ein Fehler in der Theorie der alten Sprachen, daß p1c_387.024
sie zu wenig auf den Unterschied in den Längen sahen. Klopstock p1c_387.025
giebt die Regel, beym deutschen Daktylus müsse erst p1c_387.026
die Länge, dann die kürzere, und endlich die kurze Sylbe p1c_387.027
folgen; ließe man erst die lange, dann die kurze, dann die

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des Tons aufhalten. Dennoch werden sich Völker, die p1c_387.002
mehr auf den Sinn als auf den Laut sehen, schwerlich an p1c_387.003
die Position gewöhnen können, und mit Recht. Zumal bey p1c_387.004
gelindern Consonanten würde ihnen das Verlängern unausstehlich p1c_387.005
vorkommen. Klopstock fragt, welcher Deutsche p1c_387.006
einen Hexameter aushalten würde, wie folgender ist: „Līebēndēr p1c_387.007
sāngēn vērbōrgene Nachtigallen.“ Antwort: Keiner. p1c_387.008
Warum? Fürs erste ist die Position, wenn liquidae, p1c_387.009
wie n und r, unter den Consonanten sind, schon weniger p1c_387.010
natürliche Regel. Die Sprache sey welche sie wolle, p1c_387.011
so wird doch hier die Sylbe kürzer seyn, als in andern Fällen. p1c_387.012
Fürs zweyte ist ja doch die Sprache, selbst beym Dichter, p1c_387.013
nicht des Tons, sondern des Sinnes wegen da, und p1c_387.014
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bedeuten, muß geziert vorkommen. Mögen die ältern Sprachen p1c_387.016
musikalischer seyn durch ihre Position, die neuern sind p1c_387.017
mehr für den Geist. Ueberhaupt ist es noch sehr die Frage, p1c_387.018
ob es nicht vielmehr selbst ein musikalischer Reichthum ist, p1c_387.019
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lange und bestimmt kurze. So wenig man in der Musik p1c_387.021
im Takte blos Viertel und Achtel hat, so wenig kann irgend p1c_387.022
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giebt die Regel, beym deutschen Daktylus müsse erst p1c_387.026
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/445>, abgerufen am 01.09.2024.