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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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Nicht immer stärkt ein hinzugefügtes Epitheton den Gedanken, p1c_278.002
oft schwächt es die Rede, wenn dadurch entweder ein p1c_278.003
völliger Pleonasmus entsteht, oder wenn man dadurch an p1c_278.004
Nebenideen erinnert wird, von denen man itzt nichts wissen p1c_278.005
will. Es giebt z. B. für den, welcher ästhetisches Gefühl p1c_278.006
und philosophische Einsicht genug besitzt, keine erhabenere p1c_278.007
Stelle in der Welt, als die Worte Christi im Johannes: - p1c_278.008
"Philippe, wer mich sieht, siehet den Vater." Nonnus p1c_278.009
Panopolitanus
in seiner Metaphrase des Evangeliums nach p1c_278.010
dem Johannes macht daraus folgenden Hexameter: Pas p1c_278.011
brotos os me noese, kai aphthiton eide tokea. Ungerechnet, p1c_278.012
daß das patera in tokea verwandelt worden, p1c_278.013
so ist das aphthiton hier ganz kraftlos. - Uebrigens sind p1c_278.014
die ältern Dichter nicht einmal mit einem Epitheton zufrieden. p1c_278.015
Sie häufen sie auf einander in verschiedenen Stellungen, p1c_278.016
zumal in den Hymnen, und ohne Verbindungsworte. p1c_278.017
Man fängt an im Deutschen in den dem griechischen Styl p1c_278.018
nachgebildeten Gedichten die Epitheten nach dem Worte zu p1c_278.019
setzen. Dies wird dem Genius unserer Sprache nicht zuwider p1c_278.020
seyn, sobald das Epitheton nur bedeutend ist, und etwas p1c_278.021
Wichtiges, Unterscheidendes sagt oder nur volltönig p1c_278.022
ist. "Sie kamen ans Meer, aus dunkelrollende" u. s. w. p1c_278.023
Jst aber das Epitheton klanglos, unwichtig, so bekommt es p1c_278.024
durch die Stellung zu viel Accent, und die Construction p1c_278.025
wird geziert. - Wenn der Dichter viele Namen zu nennen p1c_278.026
hat, die an sich nichts sagen, so hebt er sie durch Epitheten. p1c_278.027
Bey den ältesten Griechen waren oft die Gedichte p1c_278.028
versus memoriales, z. B. die Theogonie des Hesiodus

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Nicht immer stärkt ein hinzugefügtes Epitheton den Gedanken, p1c_278.002
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„Philippe, wer mich sieht, siehet den Vater.“ Nonnus p1c_278.009
Panopolitanus
in seiner Metaphrase des Evangeliums nach p1c_278.010
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βροτος ὁς με νοησε, και ἀφθιτον εἰδε τοκηα. Ungerechnet, p1c_278.012
daß das πατερα in τοκηα verwandelt worden, p1c_278.013
so ist das ἀφθιτον hier ganz kraftlos. ─ Uebrigens sind p1c_278.014
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Man fängt an im Deutschen in den dem griechischen Styl p1c_278.018
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/336>, abgerufen am 12.06.2024.