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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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brauchen sollte." - Gewiß fehlt daher dem Baum unsrer p1c_277.002
Sprache dadurch etwas an Laub. Sogar Herze beleidigt, p1c_277.003
ungeachtet man das noch hier und da findet. Man p1c_277.004
fängt itzt wieder an, die Selbstlaute und überhaupt die ältere p1c_277.005
Sprache einzuführen. Ob mit Erfolg wird die Zukunft lehren. p1c_277.006
- Billig sollte doch auch dem deutschen Dichter ein p1c_277.007
eigener Dialekt gestattet seyn, wie z. B. den Hebräern, die, p1c_277.008
sobald ihre Sprache numerös wird, Sylben hinzusetzen, wegwerfen, p1c_277.009
und paragogicas particulas gebrauchen. Griechen p1c_277.010
und Lateiner haben in der Dichtkunst ihre eigene freyere p1c_277.011
Declination und Conjugation. Lavis für lavas. Ulyssei p1c_277.012
für Ulyssis. - c) Ferner sucht die poetische Sprache ihr p1c_277.013
Anschauliches Werden darinnen, daß sie keinen Begriff leicht p1c_277.014
allein setzt. Sie giebt ihm ein Epitheton oder Beywort p1c_277.015
zu, das seine individuellen Eigenschaften näher ausdrückt, p1c_277.016
ohne doch ein eigentlich nothwendiges Attribut zu p1c_277.017
seyn. Vorzüglich thun dies Homer, die epischen und Jdyllendichter, p1c_277.018
und jeder Gegenstand behält dann sein Epitheton p1c_277.019
durchaus. podas okus Akhilleus u. s. w. Dadurch aber p1c_277.020
wird man am Ende so daran gewöhnt, daß gar nichts mehr p1c_277.021
dabey gedacht wird, und man es mehr als nomen proprium, p1c_277.022
als einen leeren Wortklang anhört. Diese Simplicität p1c_277.023
ist also nicht durchgängig und unbedingt anzunehmen, p1c_277.024
obwohl es in unsern hexametrischen Gedichten jetzt geschieht. p1c_277.025
Wenigstens wird damit wenig poetisches Leben gewonnen. p1c_277.026
Die Poesie bey kultivirten Völkern muß sehr sparsam mit p1c_277.027
dergleichen Gemälden seyn. Ueber die müßigen Epitheta p1c_277.028
macht sich Boileau in einer Epitre an Moliere lustig. -

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brauchen sollte.“ ─ Gewiß fehlt daher dem Baum unsrer p1c_277.002
Sprache dadurch etwas an Laub. Sogar Herze beleidigt, p1c_277.003
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eigener Dialekt gestattet seyn, wie z. B. den Hebräern, die, p1c_277.008
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wird man am Ende so daran gewöhnt, daß gar nichts mehr p1c_277.021
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Wenigstens wird damit wenig poetisches Leben gewonnen. p1c_277.026
Die Poesie bey kultivirten Völkern muß sehr sparsam mit p1c_277.027
dergleichen Gemälden seyn. Ueber die müßigen Epitheta p1c_277.028
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/335>, abgerufen am 12.06.2024.