Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.p1c_198.001 p1c_198.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0256" n="198"/><lb n="p1c_198.001"/><foreign xml:lang="grc">νατησι</foreign>. Unter den <hi rendition="#g">griechischen</hi> Lyrikern ist dem Anacreon <lb n="p1c_198.002"/> besonders das <hi rendition="#g">Naive</hi> eigen, und ist dort mit dem <lb n="p1c_198.003"/> <hi rendition="#g">Niedlichen</hi> verbunden. Offenherzig nimmt er Abschied <lb n="p1c_198.004"/> von den Helden und gesteht, daß seine Leyer nur Liebe töne. <lb n="p1c_198.005"/> Naiv ist Amor, der (<hi rendition="#aq">Od. <foreign xml:lang="grc">γ</foreign></hi>.) seinen Gastfreund mitten in <lb n="p1c_198.006"/> die Brust schießt, sich freut über seinen unversehrten Bogen, <lb n="p1c_198.007"/> und treuherzig dazusetzt: <foreign xml:lang="grc">συ δε καρδιαν πονησεις</foreign>. <hi rendition="#g">Naiv,</hi> <lb n="p1c_198.008"/> folglich <hi rendition="#g">rein,</hi> sind selbst Anacreons wollüstige Schilderungen <lb n="p1c_198.009"/> (<hi rendition="#aq">Od. <foreign xml:lang="grc">κθ</foreign></hi>.) ─ Er befiehlt dem Mahler seinen Bathyll <lb n="p1c_198.010"/> zu mahlen: <foreign xml:lang="grc">ἁπαλων δ' ὑπερθε μηρων μηρων το πυρ ἐχοντων</foreign> <lb n="p1c_198.011"/> <foreign xml:lang="grc">ἀφσλη ποιησον αἰδω, Παφιην θελουσαν ἠδη</foreign>. Die <lb n="p1c_198.012"/> Schilderung des Nackten ist bekanntlich keuscher, als der <lb n="p1c_198.013"/> halb durchsichtige Schleyer der Zweydeutigkeiten, der immer <lb n="p1c_198.014"/> die Begierde reitzt. <hi rendition="#g">Naiv</hi> lobt sich Anacreon selbst (<foreign xml:lang="grc">ξδ</foreign>): <lb n="p1c_198.015"/> <foreign xml:lang="grc">χαριεντα μεν γαρ ἀδω, χαριεντα δ' οἰδα λεξαι</foreign>. ─ Mit <lb n="p1c_198.016"/> naiver Offenherzigkeit gesteht Sappho ihre Liebe, ihre einsame <lb n="p1c_198.017"/> Sehnsucht: <foreign xml:lang="grc">γλυκεια ματερ, ουτι δυναμαι κρεκειν</foreign> <lb n="p1c_198.018"/> <foreign xml:lang="grc">τον ἱστον, ποθω δαμεισα παιδος, βραδιναν δι' Αφροδιταν</foreign>. <lb n="p1c_198.019"/> ─ <foreign xml:lang="grc">δεδυκε μεν ἁ σελανα, και Πληϊαδες, μεσαι</foreign> <lb n="p1c_198.020"/> <foreign xml:lang="grc">δε νυκτες, παρα δ' ἐρχετ' ὠρα·</foreign> <foreign xml:lang="grc">ἐγω δε μονα καθευδω</foreign>. ─ <lb n="p1c_198.021"/> Bey den Tragikern ist das <hi rendition="#g">Naive</hi> in etwas roherer Gestalt, <lb n="p1c_198.022"/> verbindet sich zuweilen mit dem höhern Schönen. <lb n="p1c_198.023"/> Aufrichtigkeit und Geradheit ist besonders im Gezänk der <lb n="p1c_198.024"/> Helden, wo sie alle ihre Neigungen und Leidenschaften unverholen <lb n="p1c_198.025"/> an den Tag legen. Das Geständniß des Oedypus <lb n="p1c_198.026"/> (im <hi rendition="#aq">Tyrann. vs</hi>. 1080.) verbindet Naivität mit Hoheit: <lb n="p1c_198.027"/> ─ <foreign xml:lang="grc">ἐγω δ' ἐμαυτον παιδα της Τυχης νεμων της ἐυ διδουσης</foreign>, <lb n="p1c_198.028"/> <foreign xml:lang="grc">οὐκ ατιμασθησομαι</foreign> ─ <foreign xml:lang="grc">της γαρ πεφυκα μητρος·</foreign> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [198/0256]
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νατησι. Unter den griechischen Lyrikern ist dem Anacreon p1c_198.002
besonders das Naive eigen, und ist dort mit dem p1c_198.003
Niedlichen verbunden. Offenherzig nimmt er Abschied p1c_198.004
von den Helden und gesteht, daß seine Leyer nur Liebe töne. p1c_198.005
Naiv ist Amor, der (Od. γ.) seinen Gastfreund mitten in p1c_198.006
die Brust schießt, sich freut über seinen unversehrten Bogen, p1c_198.007
und treuherzig dazusetzt: συ δε καρδιαν πονησεις. Naiv, p1c_198.008
folglich rein, sind selbst Anacreons wollüstige Schilderungen p1c_198.009
(Od. κθ.) ─ Er befiehlt dem Mahler seinen Bathyll p1c_198.010
zu mahlen: ἁπαλων δ' ὑπερθε μηρων μηρων το πυρ ἐχοντων p1c_198.011
ἀφσλη ποιησον αἰδω, Παφιην θελουσαν ἠδη. Die p1c_198.012
Schilderung des Nackten ist bekanntlich keuscher, als der p1c_198.013
halb durchsichtige Schleyer der Zweydeutigkeiten, der immer p1c_198.014
die Begierde reitzt. Naiv lobt sich Anacreon selbst (ξδ): p1c_198.015
χαριεντα μεν γαρ ἀδω, χαριεντα δ' οἰδα λεξαι. ─ Mit p1c_198.016
naiver Offenherzigkeit gesteht Sappho ihre Liebe, ihre einsame p1c_198.017
Sehnsucht: γλυκεια ματερ, ουτι δυναμαι κρεκειν p1c_198.018
τον ἱστον, ποθω δαμεισα παιδος, βραδιναν δι' Αφροδιταν. p1c_198.019
─ δεδυκε μεν ἁ σελανα, και Πληϊαδες, μεσαι p1c_198.020
δε νυκτες, παρα δ' ἐρχετ' ὠρα· ἐγω δε μονα καθευδω. ─ p1c_198.021
Bey den Tragikern ist das Naive in etwas roherer Gestalt, p1c_198.022
verbindet sich zuweilen mit dem höhern Schönen. p1c_198.023
Aufrichtigkeit und Geradheit ist besonders im Gezänk der p1c_198.024
Helden, wo sie alle ihre Neigungen und Leidenschaften unverholen p1c_198.025
an den Tag legen. Das Geständniß des Oedypus p1c_198.026
(im Tyrann. vs. 1080.) verbindet Naivität mit Hoheit: p1c_198.027
─ ἐγω δ' ἐμαυτον παιδα της Τυχης νεμων της ἐυ διδουσης, p1c_198.028
οὐκ ατιμασθησομαι ─ της γαρ πεφυκα μητρος·
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