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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Which, you say, adds to nature, is an art
That nature makes -- -- -- this is an art
Which does mend nature, change it rather, but:
The art itself is nature.

Da es das Ziel von Shakespeare's Drama ist, Charaktere zu schildern,
so wird der Grad seines Naturalismus an nichts anderem gemessen
werden können, als an der naturgetreuen Darstellung von Charakteren.
Wer vermeint, die kinematographische Wiedergabe des täglichen Lebens
auf der Bühne sei naturalistische Kunst, steht zu sehr auf dem
naivsten Panoptikumsstandpunkt, als dass eine Diskussion mit ihm
sich verlohnen könnte.1) -- Mein zweites Beispiel soll von dem
anderen Extrem hergenommen werden. Die Musik hatte sich bei
uns, wie man sah, zwar nicht ganz, doch fast von der Dichtkunst ge-
schieden; es schien, als hätte sie sich von der Erde losgelöst. Sie
wurde so vorwiegend, ja, fast ausschliesslich Ausdruck, dass es bis-
weilen den Anschein hatte, als höre sie auf, Kunst zu sein, denn wir
haben gesehen, Kunst ist nicht Ausdruck, sondern das, was den Aus-
druck vermittelt. Und in der That, während Lessing, Herder, Goethe,
Schiller in der Musik ein Höchstes verehrt und Beethoven von ihr
gesagt hatte, sie sei "der einzige unverkörperte Eingang in eine höhere
Welt", fanden sich bald Leute ein, welche kühn behaupteten und alle
Welt belehrten, die Musik drücke gar nichts aus, bedeute gar nichts,
sondern sei lediglich eine Art Ornamentik, ein kaleidoskopisches Spiel
mit Schwingungsverhältnissen! So rächt es sich, wenn eine Kunst den
Boden der Wirklichkeit verlässt. Doch war in Wahrheit etwas ganz
Anderes geschehen, als was diese Nussschalgehirne sich für ihre be-
scheidenen geistigen Bedürfnisse zurecht gelegt hatten. Unsere Ton-

1) Höchstens kann man einem solchen Manne die Wohlthat erweisen, ihn
auf Schiller's lichtvolle Ausführungen über diesen Gegenstand zu verweisen, welche
in den Sätzen gipfeln: "Die Natur selbst ist eine Idee des Geistes, die nie in die
Sinne fällt. Unter der Decke der Erscheinung liegt sie, aber sie selbst kommt
niemals zur Erscheinung. Bloss der Kunst des Ideals ist es verliehen, oder viel-
mehr, es ist ihr aufgegeben, diesen Geist des Alls zu ergreifen und in einer körper-
lichen Form zu binden. Auch sie selbst kann ihn zwar nie vor die Sinne, aber
doch durch ihre schaffende Gewalt vor die Einbildungskraft bringen und dadurch
wahrer sein, als alle Wirklichkeit, und realer, als alle Erfahrung.
Es ergiebt sich daraus von selbst, dass der Künstler kein einziges Element aus der
Wirklichkeit brauchen kann, wie er es findet, dass sein Werk in allen Teilen
ideell sein muss, wenn es als ein Ganzes Realität haben und mit der
Natur übereinstimmen soll
" (Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie).
Die Entstehung einer neuen Welt.
Which, you say, adds to nature, is an art
That nature makes — — — this is an art
Which does mend nature, change it rather, but:
The art itself is nature.

Da es das Ziel von Shakespeare’s Drama ist, Charaktere zu schildern,
so wird der Grad seines Naturalismus an nichts anderem gemessen
werden können, als an der naturgetreuen Darstellung von Charakteren.
Wer vermeint, die kinematographische Wiedergabe des täglichen Lebens
auf der Bühne sei naturalistische Kunst, steht zu sehr auf dem
naivsten Panoptikumsstandpunkt, als dass eine Diskussion mit ihm
sich verlohnen könnte.1) — Mein zweites Beispiel soll von dem
anderen Extrem hergenommen werden. Die Musik hatte sich bei
uns, wie man sah, zwar nicht ganz, doch fast von der Dichtkunst ge-
schieden; es schien, als hätte sie sich von der Erde losgelöst. Sie
wurde so vorwiegend, ja, fast ausschliesslich Ausdruck, dass es bis-
weilen den Anschein hatte, als höre sie auf, Kunst zu sein, denn wir
haben gesehen, Kunst ist nicht Ausdruck, sondern das, was den Aus-
druck vermittelt. Und in der That, während Lessing, Herder, Goethe,
Schiller in der Musik ein Höchstes verehrt und Beethoven von ihr
gesagt hatte, sie sei »der einzige unverkörperte Eingang in eine höhere
Welt«, fanden sich bald Leute ein, welche kühn behaupteten und alle
Welt belehrten, die Musik drücke gar nichts aus, bedeute gar nichts,
sondern sei lediglich eine Art Ornamentik, ein kaleidoskopisches Spiel
mit Schwingungsverhältnissen! So rächt es sich, wenn eine Kunst den
Boden der Wirklichkeit verlässt. Doch war in Wahrheit etwas ganz
Anderes geschehen, als was diese Nussschalgehirne sich für ihre be-
scheidenen geistigen Bedürfnisse zurecht gelegt hatten. Unsere Ton-

1) Höchstens kann man einem solchen Manne die Wohlthat erweisen, ihn
auf Schiller’s lichtvolle Ausführungen über diesen Gegenstand zu verweisen, welche
in den Sätzen gipfeln: »Die Natur selbst ist eine Idee des Geistes, die nie in die
Sinne fällt. Unter der Decke der Erscheinung liegt sie, aber sie selbst kommt
niemals zur Erscheinung. Bloss der Kunst des Ideals ist es verliehen, oder viel-
mehr, es ist ihr aufgegeben, diesen Geist des Alls zu ergreifen und in einer körper-
lichen Form zu binden. Auch sie selbst kann ihn zwar nie vor die Sinne, aber
doch durch ihre schaffende Gewalt vor die Einbildungskraft bringen und dadurch
wahrer sein, als alle Wirklichkeit, und realer, als alle Erfahrung.
Es ergiebt sich daraus von selbst, dass der Künstler kein einziges Element aus der
Wirklichkeit brauchen kann, wie er es findet, dass sein Werk in allen Teilen
ideell sein muss, wenn es als ein Ganzes Realität haben und mit der
Natur übereinstimmen soll
« (Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie).
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[1000/0479] Die Entstehung einer neuen Welt. Which, you say, adds to nature, is an art That nature makes — — — this is an art Which does mend nature, change it rather, but: The art itself is nature. Da es das Ziel von Shakespeare’s Drama ist, Charaktere zu schildern, so wird der Grad seines Naturalismus an nichts anderem gemessen werden können, als an der naturgetreuen Darstellung von Charakteren. Wer vermeint, die kinematographische Wiedergabe des täglichen Lebens auf der Bühne sei naturalistische Kunst, steht zu sehr auf dem naivsten Panoptikumsstandpunkt, als dass eine Diskussion mit ihm sich verlohnen könnte. 1) — Mein zweites Beispiel soll von dem anderen Extrem hergenommen werden. Die Musik hatte sich bei uns, wie man sah, zwar nicht ganz, doch fast von der Dichtkunst ge- schieden; es schien, als hätte sie sich von der Erde losgelöst. Sie wurde so vorwiegend, ja, fast ausschliesslich Ausdruck, dass es bis- weilen den Anschein hatte, als höre sie auf, Kunst zu sein, denn wir haben gesehen, Kunst ist nicht Ausdruck, sondern das, was den Aus- druck vermittelt. Und in der That, während Lessing, Herder, Goethe, Schiller in der Musik ein Höchstes verehrt und Beethoven von ihr gesagt hatte, sie sei »der einzige unverkörperte Eingang in eine höhere Welt«, fanden sich bald Leute ein, welche kühn behaupteten und alle Welt belehrten, die Musik drücke gar nichts aus, bedeute gar nichts, sondern sei lediglich eine Art Ornamentik, ein kaleidoskopisches Spiel mit Schwingungsverhältnissen! So rächt es sich, wenn eine Kunst den Boden der Wirklichkeit verlässt. Doch war in Wahrheit etwas ganz Anderes geschehen, als was diese Nussschalgehirne sich für ihre be- scheidenen geistigen Bedürfnisse zurecht gelegt hatten. Unsere Ton- 1) Höchstens kann man einem solchen Manne die Wohlthat erweisen, ihn auf Schiller’s lichtvolle Ausführungen über diesen Gegenstand zu verweisen, welche in den Sätzen gipfeln: »Die Natur selbst ist eine Idee des Geistes, die nie in die Sinne fällt. Unter der Decke der Erscheinung liegt sie, aber sie selbst kommt niemals zur Erscheinung. Bloss der Kunst des Ideals ist es verliehen, oder viel- mehr, es ist ihr aufgegeben, diesen Geist des Alls zu ergreifen und in einer körper- lichen Form zu binden. Auch sie selbst kann ihn zwar nie vor die Sinne, aber doch durch ihre schaffende Gewalt vor die Einbildungskraft bringen und dadurch wahrer sein, als alle Wirklichkeit, und realer, als alle Erfahrung. Es ergiebt sich daraus von selbst, dass der Künstler kein einziges Element aus der Wirklichkeit brauchen kann, wie er es findet, dass sein Werk in allen Teilen ideell sein muss, wenn es als ein Ganzes Realität haben und mit der Natur übereinstimmen soll« (Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 1000. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/479>, abgerufen am 15.06.2024.