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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
einen Shakespeare erlebt. Auf hellenischem Boden wäre also
eine der höchsten Erscheinungen schöpferischer Kraft ausgeschlossen
gewesen. Schiller schreibt an Goethe: "Es ist mir aufgefallen, dass
die Charaktere des griechischen Trauerspiels mehr oder weniger idea-
lische Masken
und keine eigentlichen Individuen sind, wie ich sie
in Shakespeare und auch in Ihren Stücken finde."1) Diese Zusammen-
stellung von zwei Dichtern, die so weit auseinanderstehen, ist inter-
essant: was Goethe und Shakespeare verbindet, ist Naturtreue. Shake-
speare's Kunst ist durchaus naturalistisch, ja, bis zur Roheit -- Gott
Lob, bis zur Roheit. Wie Leonardo lehrt, auch den "Schmutz" soll
der Künstler liebevoll studieren. Darum wurde ein Shakespeare in
dem Jahrhundert erlogener Klassizität so schmählich verkannt und
konnte ein so grosser Geist wie Friedrich die Tragödien eines Voltaire
denen jenes gewaltigen Poeten vorziehen. Dass nun seine Darstellungs-
art nicht naturgetreu im Sinne des sogenannten "Realismus" ist, wurde
neuerdings von etlichen Kritikern übel vermerkt; doch wie Goethe
sagt: "Kunst heisst eben darum Kunst, weil sie nicht Natur ist".2)
Kunst ist Gestaltung; sie ist Sache des Künstlers und der besonderen
Kunstart; unbedingte Naturtreue von einem Werke fordern, ist erstens
überflüssig, da die Natur selbst das leistet, zweitens ungereimt, da der
Mensch nur Menschliches schaffen kann, drittens widersinnig, da der
Mensch durch die Kunst die Natur zwingen will, ein "Übernatür-
liches" zur Darstellung zu bringen. In jedem Kunstwerk wird es also
eine eigenmächtige Gestaltung geben;3) naturalistisch kann Kunst nur in
ihren Zielen, nicht in ihren Mitteln sein; der sogenannte "Realismus" ist
eine tiefe Ebbe künstlerischer Potenz; schon Montesquieu sagte von den
realistischen Dichtern: "Ils passent leur vie a chercher la nature, et la
manquent toujours
". Von Shakespeare, dem Poeten, verlangen, seine
Helden sollen keine poetische Reden halten, ist gerade so vernünftig, wie
wenn Giovanni Strozzi Michelangelo's Nacht anruft, der Stein solle auf-
stehen und reden. Shakespeare selber hat (im Wintermärchen) mit
unendlicher Grazie das Gespinst dieser ästhetischen Sophismen zerstört:

Yet nature is made better by no mean
But nature makes that mean: so, o'er that art

1) 4. April 1797.
2) Wanderjahre, 2, 9.
3) Mit besonders wohlthuender wissenschaftlicher Klarheit dargethan von
Taine: Philosophie de l'Art, I., ch. 5. Wogegen Seneca's omnis ars imitatio est naturae
die echt römische Seichtigkeit in allen Fragen der Kunst und der Philosophie zeigt.

Kunst.
einen Shakespeare erlebt. Auf hellenischem Boden wäre also
eine der höchsten Erscheinungen schöpferischer Kraft ausgeschlossen
gewesen. Schiller schreibt an Goethe: »Es ist mir aufgefallen, dass
die Charaktere des griechischen Trauerspiels mehr oder weniger idea-
lische Masken
und keine eigentlichen Individuen sind, wie ich sie
in Shakespeare und auch in Ihren Stücken finde.«1) Diese Zusammen-
stellung von zwei Dichtern, die so weit auseinanderstehen, ist inter-
essant: was Goethe und Shakespeare verbindet, ist Naturtreue. Shake-
speare’s Kunst ist durchaus naturalistisch, ja, bis zur Roheit — Gott
Lob, bis zur Roheit. Wie Leonardo lehrt, auch den »Schmutz« soll
der Künstler liebevoll studieren. Darum wurde ein Shakespeare in
dem Jahrhundert erlogener Klassizität so schmählich verkannt und
konnte ein so grosser Geist wie Friedrich die Tragödien eines Voltaire
denen jenes gewaltigen Poeten vorziehen. Dass nun seine Darstellungs-
art nicht naturgetreu im Sinne des sogenannten »Realismus« ist, wurde
neuerdings von etlichen Kritikern übel vermerkt; doch wie Goethe
sagt: »Kunst heisst eben darum Kunst, weil sie nicht Natur ist«.2)
Kunst ist Gestaltung; sie ist Sache des Künstlers und der besonderen
Kunstart; unbedingte Naturtreue von einem Werke fordern, ist erstens
überflüssig, da die Natur selbst das leistet, zweitens ungereimt, da der
Mensch nur Menschliches schaffen kann, drittens widersinnig, da der
Mensch durch die Kunst die Natur zwingen will, ein »Übernatür-
liches« zur Darstellung zu bringen. In jedem Kunstwerk wird es also
eine eigenmächtige Gestaltung geben;3) naturalistisch kann Kunst nur in
ihren Zielen, nicht in ihren Mitteln sein; der sogenannte »Realismus« ist
eine tiefe Ebbe künstlerischer Potenz; schon Montesquieu sagte von den
realistischen Dichtern: »Ils passent leur vie à chercher la nature, et la
manquent toujours
«. Von Shakespeare, dem Poeten, verlangen, seine
Helden sollen keine poetische Reden halten, ist gerade so vernünftig, wie
wenn Giovanni Strozzi Michelangelo’s Nacht anruft, der Stein solle auf-
stehen und reden. Shakespeare selber hat (im Wintermärchen) mit
unendlicher Grazie das Gespinst dieser ästhetischen Sophismen zerstört:

Yet nature is made better by no mean
But nature makes that mean: so, o’er that art

1) 4. April 1797.
2) Wanderjahre, 2, 9.
3) Mit besonders wohlthuender wissenschaftlicher Klarheit dargethan von
Taine: Philosophie de l’Art, I., ch. 5. Wogegen Seneca’s omnis ars imitatio est naturae
die echt römische Seichtigkeit in allen Fragen der Kunst und der Philosophie zeigt.
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[999/0478] Kunst. einen Shakespeare erlebt. Auf hellenischem Boden wäre also eine der höchsten Erscheinungen schöpferischer Kraft ausgeschlossen gewesen. Schiller schreibt an Goethe: »Es ist mir aufgefallen, dass die Charaktere des griechischen Trauerspiels mehr oder weniger idea- lische Masken und keine eigentlichen Individuen sind, wie ich sie in Shakespeare und auch in Ihren Stücken finde.« 1) Diese Zusammen- stellung von zwei Dichtern, die so weit auseinanderstehen, ist inter- essant: was Goethe und Shakespeare verbindet, ist Naturtreue. Shake- speare’s Kunst ist durchaus naturalistisch, ja, bis zur Roheit — Gott Lob, bis zur Roheit. Wie Leonardo lehrt, auch den »Schmutz« soll der Künstler liebevoll studieren. Darum wurde ein Shakespeare in dem Jahrhundert erlogener Klassizität so schmählich verkannt und konnte ein so grosser Geist wie Friedrich die Tragödien eines Voltaire denen jenes gewaltigen Poeten vorziehen. Dass nun seine Darstellungs- art nicht naturgetreu im Sinne des sogenannten »Realismus« ist, wurde neuerdings von etlichen Kritikern übel vermerkt; doch wie Goethe sagt: »Kunst heisst eben darum Kunst, weil sie nicht Natur ist«. 2) Kunst ist Gestaltung; sie ist Sache des Künstlers und der besonderen Kunstart; unbedingte Naturtreue von einem Werke fordern, ist erstens überflüssig, da die Natur selbst das leistet, zweitens ungereimt, da der Mensch nur Menschliches schaffen kann, drittens widersinnig, da der Mensch durch die Kunst die Natur zwingen will, ein »Übernatür- liches« zur Darstellung zu bringen. In jedem Kunstwerk wird es also eine eigenmächtige Gestaltung geben; 3) naturalistisch kann Kunst nur in ihren Zielen, nicht in ihren Mitteln sein; der sogenannte »Realismus« ist eine tiefe Ebbe künstlerischer Potenz; schon Montesquieu sagte von den realistischen Dichtern: »Ils passent leur vie à chercher la nature, et la manquent toujours«. Von Shakespeare, dem Poeten, verlangen, seine Helden sollen keine poetische Reden halten, ist gerade so vernünftig, wie wenn Giovanni Strozzi Michelangelo’s Nacht anruft, der Stein solle auf- stehen und reden. Shakespeare selber hat (im Wintermärchen) mit unendlicher Grazie das Gespinst dieser ästhetischen Sophismen zerstört: Yet nature is made better by no mean But nature makes that mean: so, o’er that art 1) 4. April 1797. 2) Wanderjahre, 2, 9. 3) Mit besonders wohlthuender wissenschaftlicher Klarheit dargethan von Taine: Philosophie de l’Art, I., ch. 5. Wogegen Seneca’s omnis ars imitatio est naturae die echt römische Seichtigkeit in allen Fragen der Kunst und der Philosophie zeigt.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 999. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/478>, abgerufen am 22.11.2024.