Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Kunst. künstler hatten inzwischen durch eine genau halbtausendjährige Arbeitnach und nach eine immer vollkommenere Beherrschung ihres Materials erreicht, es immer geschmeidiger und gefügiger, d. h. also gestaltungs- fähiger gemacht (vergl. S. 981), was bei dem engen, untergeordneten Anschluss an das Wort in Griechenland ebensowenig jemals hatte ge- lingen können, wie die Geburt eines Shakespeare. Dadurch war die Musik immer mehr echte "Kunst" geworden, da sie in zunehmendem Masse in den Stand gesetzt worden war, Ausdruck zu vermitteln. Und erst in Folge dieser Entwickelung ist auch sie -- die früher mehr rein formale, wie ein faltiges Gewand den lebendigen Leib der Dichtung umgebende Kunst -- nunmehr der uns Germanen eigenen, naturali- stischen Gestaltungsrichtung zugänglich geworden. Nichts wirkt so unmittelbar, wie die Musik. Shakespeare konnte nur durch Vermitte- lung des Verstandes Charaktere malen; gewissermassen durch doppelten Spiegelreflex; denn zuerst spiegelt sich der Charakter in Handlungen wieder, die weitläufiger Bestimmung bedürfen, um verstanden zu werden, und dann spiegeln wir unser Urteil auf den Charakter zurück. Die Musik dagegen schenkt augenblickliche Verständigung; sie giebt das Wider- spruchsvolle der momentanen Stimmung, sie giebt die schnelle Folge der wechselnden Gefühle, die Erinnerung an längst Vergangenes, die Hoffnung, die Sehnsucht, die Ahnung, das Unaussprechbare; durch sie erst -- und zwar mit voller Meisterschaft erst durch die an der Schwelle unseres Jahrhunderts in Beethoven kulminierende Entwickelung -- ist Seelennaturalismus möglich geworden. Die unserer ganzen Kunstentwickelung zu Grunde liegendenZusammen- Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 64
Kunst. künstler hatten inzwischen durch eine genau halbtausendjährige Arbeitnach und nach eine immer vollkommenere Beherrschung ihres Materials erreicht, es immer geschmeidiger und gefügiger, d. h. also gestaltungs- fähiger gemacht (vergl. S. 981), was bei dem engen, untergeordneten Anschluss an das Wort in Griechenland ebensowenig jemals hatte ge- lingen können, wie die Geburt eines Shakespeare. Dadurch war die Musik immer mehr echte »Kunst« geworden, da sie in zunehmendem Masse in den Stand gesetzt worden war, Ausdruck zu vermitteln. Und erst in Folge dieser Entwickelung ist auch sie — die früher mehr rein formale, wie ein faltiges Gewand den lebendigen Leib der Dichtung umgebende Kunst — nunmehr der uns Germanen eigenen, naturali- stischen Gestaltungsrichtung zugänglich geworden. Nichts wirkt so unmittelbar, wie die Musik. Shakespeare konnte nur durch Vermitte- lung des Verstandes Charaktere malen; gewissermassen durch doppelten Spiegelreflex; denn zuerst spiegelt sich der Charakter in Handlungen wieder, die weitläufiger Bestimmung bedürfen, um verstanden zu werden, und dann spiegeln wir unser Urteil auf den Charakter zurück. Die Musik dagegen schenkt augenblickliche Verständigung; sie giebt das Wider- spruchsvolle der momentanen Stimmung, sie giebt die schnelle Folge der wechselnden Gefühle, die Erinnerung an längst Vergangenes, die Hoffnung, die Sehnsucht, die Ahnung, das Unaussprechbare; durch sie erst — und zwar mit voller Meisterschaft erst durch die an der Schwelle unseres Jahrhunderts in Beethoven kulminierende Entwickelung — ist Seelennaturalismus möglich geworden. Die unserer ganzen Kunstentwickelung zu Grunde liegendenZusammen- Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 64
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Kunst.
künstler hatten inzwischen durch eine genau halbtausendjährige Arbeit
nach und nach eine immer vollkommenere Beherrschung ihres Materials
erreicht, es immer geschmeidiger und gefügiger, d. h. also gestaltungs-
fähiger gemacht (vergl. S. 981), was bei dem engen, untergeordneten
Anschluss an das Wort in Griechenland ebensowenig jemals hatte ge-
lingen können, wie die Geburt eines Shakespeare. Dadurch war die
Musik immer mehr echte »Kunst« geworden, da sie in zunehmendem
Masse in den Stand gesetzt worden war, Ausdruck zu vermitteln. Und
erst in Folge dieser Entwickelung ist auch sie — die früher mehr
rein formale, wie ein faltiges Gewand den lebendigen Leib der Dichtung
umgebende Kunst — nunmehr der uns Germanen eigenen, naturali-
stischen Gestaltungsrichtung zugänglich geworden. Nichts wirkt so
unmittelbar, wie die Musik. Shakespeare konnte nur durch Vermitte-
lung des Verstandes Charaktere malen; gewissermassen durch doppelten
Spiegelreflex; denn zuerst spiegelt sich der Charakter in Handlungen
wieder, die weitläufiger Bestimmung bedürfen, um verstanden zu werden,
und dann spiegeln wir unser Urteil auf den Charakter zurück. Die Musik
dagegen schenkt augenblickliche Verständigung; sie giebt das Wider-
spruchsvolle der momentanen Stimmung, sie giebt die schnelle Folge
der wechselnden Gefühle, die Erinnerung an längst Vergangenes, die
Hoffnung, die Sehnsucht, die Ahnung, das Unaussprechbare; durch sie
erst — und zwar mit voller Meisterschaft erst durch die an der Schwelle
unseres Jahrhunderts in Beethoven kulminierende Entwickelung — ist
Seelennaturalismus möglich geworden.
Die unserer ganzen Kunstentwickelung zu Grunde liegenden
Faktoren fasse ich der Deutlichkeit wegen noch einmal zusammen:
auf der einen Seite die Tiefe, Gewalt und Unmittelbarkeit des Aus-
druckes (also das musikalische Genie) als unsere individuellste Kraft,
auf der anderen, das grosse Geheimnis unserer Überlegenheit auf so
vielen Gebieten, nämlich die uns angeborene Neigung, mit Wahr-
haftigkeit und Treue der Natur nachzugehen (Naturalismus); diesen
zwei gegensätzlichen, doch in allen höchsten Schöpfungen wechsel-
seitig sich ergänzenden Trieben und Fähigkeiten gegenüber, die Tradition
von einer fremden, vergangenen, in strenger Beschränkung zu hoher
Vollkommenheit gelangten Kunst, die uns lebhafte Anregung und
reiche Belehrung gewährt, doch zugleich durch die Vorspiegelung eines
fremden Ideals immer wieder in die Irre führt und uns namentlich
verleitet, gerade das, was wir am besten können — das musikalisch
Ausdrucksvolle und das naturalistisch Getreue — zu verschmähen.
Zusammen-
fassung.
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