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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wissenschaft.
selber so gern zu sonnen. Auch hier wieder hat Goethe Recht:
"Jede Lösung eines Problems ist ein neues Problem."1) Und sind
wir einst so weit, dass der Physiko-Chemiker das Problem des Heliotro-
pismus in die Hand nimmt und das Ganze eine Berechnung und zu-
letzt eine algebraische Formel wird, dann wird diese Frage in das-
selbe Stadium getreten sein, wie schon heute die Gravitation, und
Jeder wird auch hier erkennen, dass Wissenschaft nicht Thatsachen
erklärt, sondern sie entdecken hilft und sie -- möglichst naturgemäss,
möglichst menschengerecht -- schematisiert. Sollte dies Letztere, also
das eigentliche Werk der Wissenschaft, wirklich (wie Liebig will)
ohne die Mitwirkung der Phantasie möglich sein? Sollte das Schöpfe-
rische -- und das ist, was wir Genie nennen -- keinen notwendigen
Anteil an dem Aufbau unserer Wissenschaft nehmen? Auf eine theo-
retische Diskussion brauchen wir uns gar nicht einzulassen, denn die
Geschichte beweist das Gegenteil. Je exakter die Wissenschaft, um
so mehr bedarf sie der Phantasie, und ganz ohne sie kommt keine
fort. Wo findet man kühnere Gebilde der Phantasie als jene Atome
und Moleküle, ohne die es keine Physik und keine Chemie gäbe?
oder als jenen "physikalischen Scherwenzel und Hirngespinnst", wie
Lichtenberg ihn nennt, den Äther, der zwar Materie ist (sonst nützte
er für unsere Hypothesen nichts), dem aber die wesentlichsten Prädi-
kate der Materie, wie da sind Ausdehnung und Undurchdringlichkeit,
abgesprochen werden müssen (sonst nützte er ebenfalls nichts), eine
wahre "Wurzel aus minus eins!" Ich möchte wirklich wissen, wo es
eine Kunst giebt, die dermassen "in der Phantasie wurzelt?" Liebig sagt,
die Kunst "erfindet Thatsachen": niemals thut sie das! Sie hat es gar
nicht nötig; ausserdem würde man sie, wenn sie es thäte, nicht ver-
stehen. Freilich verdichtet sie das Auseinanderliegende, fügt sie zu-
sammen, was wir nur getrennt kennen und scheidet aus, was an dem
Wirklichen ihr im Wege ist, hierdurch gestaltet sie das Unübersicht-
liche, und teilt sie Licht und Schatten nach Gutdünken aus, doch über-
schreitet sie nie die Grenze des der Vorstellung Vertrauten und des
denkbar Möglichen; denn Kunst ist -- im genauen Gegensatz zur
Wissenschaft -- eine Thätigkeit des Geistes, welche sich lediglich auf das
rein Menschliche beschränkt: vom Menschen stammt sie, an Menschen
wendet sie sich, das Menschliche allein ist ihr Feld.2) Ganz anders,

1) Gespräch mit Kanzler von Müller, 8. Juni 1821.
2) Offenbar ist z. B. Landschafts- oder Tiermalerei niemals etwas Anderes

Wissenschaft.
selber so gern zu sonnen. Auch hier wieder hat Goethe Recht:
»Jede Lösung eines Problems ist ein neues Problem.«1) Und sind
wir einst so weit, dass der Physiko-Chemiker das Problem des Heliotro-
pismus in die Hand nimmt und das Ganze eine Berechnung und zu-
letzt eine algebraische Formel wird, dann wird diese Frage in das-
selbe Stadium getreten sein, wie schon heute die Gravitation, und
Jeder wird auch hier erkennen, dass Wissenschaft nicht Thatsachen
erklärt, sondern sie entdecken hilft und sie — möglichst naturgemäss,
möglichst menschengerecht — schematisiert. Sollte dies Letztere, also
das eigentliche Werk der Wissenschaft, wirklich (wie Liebig will)
ohne die Mitwirkung der Phantasie möglich sein? Sollte das Schöpfe-
rische — und das ist, was wir Genie nennen — keinen notwendigen
Anteil an dem Aufbau unserer Wissenschaft nehmen? Auf eine theo-
retische Diskussion brauchen wir uns gar nicht einzulassen, denn die
Geschichte beweist das Gegenteil. Je exakter die Wissenschaft, um
so mehr bedarf sie der Phantasie, und ganz ohne sie kommt keine
fort. Wo findet man kühnere Gebilde der Phantasie als jene Atome
und Moleküle, ohne die es keine Physik und keine Chemie gäbe?
oder als jenen »physikalischen Scherwenzel und Hirngespinnst«, wie
Lichtenberg ihn nennt, den Äther, der zwar Materie ist (sonst nützte
er für unsere Hypothesen nichts), dem aber die wesentlichsten Prädi-
kate der Materie, wie da sind Ausdehnung und Undurchdringlichkeit,
abgesprochen werden müssen (sonst nützte er ebenfalls nichts), eine
wahre »Wurzel aus minus eins!« Ich möchte wirklich wissen, wo es
eine Kunst giebt, die dermassen »in der Phantasie wurzelt?« Liebig sagt,
die Kunst »erfindet Thatsachen«: niemals thut sie das! Sie hat es gar
nicht nötig; ausserdem würde man sie, wenn sie es thäte, nicht ver-
stehen. Freilich verdichtet sie das Auseinanderliegende, fügt sie zu-
sammen, was wir nur getrennt kennen und scheidet aus, was an dem
Wirklichen ihr im Wege ist, hierdurch gestaltet sie das Unübersicht-
liche, und teilt sie Licht und Schatten nach Gutdünken aus, doch über-
schreitet sie nie die Grenze des der Vorstellung Vertrauten und des
denkbar Möglichen; denn Kunst ist — im genauen Gegensatz zur
Wissenschaft — eine Thätigkeit des Geistes, welche sich lediglich auf das
rein Menschliche beschränkt: vom Menschen stammt sie, an Menschen
wendet sie sich, das Menschliche allein ist ihr Feld.2) Ganz anders,

1) Gespräch mit Kanzler von Müller, 8. Juni 1821.
2) Offenbar ist z. B. Landschafts- oder Tiermalerei niemals etwas Anderes
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[799/0278] Wissenschaft. selber so gern zu sonnen. Auch hier wieder hat Goethe Recht: »Jede Lösung eines Problems ist ein neues Problem.« 1) Und sind wir einst so weit, dass der Physiko-Chemiker das Problem des Heliotro- pismus in die Hand nimmt und das Ganze eine Berechnung und zu- letzt eine algebraische Formel wird, dann wird diese Frage in das- selbe Stadium getreten sein, wie schon heute die Gravitation, und Jeder wird auch hier erkennen, dass Wissenschaft nicht Thatsachen erklärt, sondern sie entdecken hilft und sie — möglichst naturgemäss, möglichst menschengerecht — schematisiert. Sollte dies Letztere, also das eigentliche Werk der Wissenschaft, wirklich (wie Liebig will) ohne die Mitwirkung der Phantasie möglich sein? Sollte das Schöpfe- rische — und das ist, was wir Genie nennen — keinen notwendigen Anteil an dem Aufbau unserer Wissenschaft nehmen? Auf eine theo- retische Diskussion brauchen wir uns gar nicht einzulassen, denn die Geschichte beweist das Gegenteil. Je exakter die Wissenschaft, um so mehr bedarf sie der Phantasie, und ganz ohne sie kommt keine fort. Wo findet man kühnere Gebilde der Phantasie als jene Atome und Moleküle, ohne die es keine Physik und keine Chemie gäbe? oder als jenen »physikalischen Scherwenzel und Hirngespinnst«, wie Lichtenberg ihn nennt, den Äther, der zwar Materie ist (sonst nützte er für unsere Hypothesen nichts), dem aber die wesentlichsten Prädi- kate der Materie, wie da sind Ausdehnung und Undurchdringlichkeit, abgesprochen werden müssen (sonst nützte er ebenfalls nichts), eine wahre »Wurzel aus minus eins!« Ich möchte wirklich wissen, wo es eine Kunst giebt, die dermassen »in der Phantasie wurzelt?« Liebig sagt, die Kunst »erfindet Thatsachen«: niemals thut sie das! Sie hat es gar nicht nötig; ausserdem würde man sie, wenn sie es thäte, nicht ver- stehen. Freilich verdichtet sie das Auseinanderliegende, fügt sie zu- sammen, was wir nur getrennt kennen und scheidet aus, was an dem Wirklichen ihr im Wege ist, hierdurch gestaltet sie das Unübersicht- liche, und teilt sie Licht und Schatten nach Gutdünken aus, doch über- schreitet sie nie die Grenze des der Vorstellung Vertrauten und des denkbar Möglichen; denn Kunst ist — im genauen Gegensatz zur Wissenschaft — eine Thätigkeit des Geistes, welche sich lediglich auf das rein Menschliche beschränkt: vom Menschen stammt sie, an Menschen wendet sie sich, das Menschliche allein ist ihr Feld. 2) Ganz anders, 1) Gespräch mit Kanzler von Müller, 8. Juni 1821. 2) Offenbar ist z. B. Landschafts- oder Tiermalerei niemals etwas Anderes

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 799. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/278>, abgerufen am 22.11.2024.