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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt
wie wir gesehen haben, die Wissenschaft: diese geht darauf aus, die
Natur zu erforschen, und die Natur ist nicht menschlich. Ja, wäre
sie es, wie die Hellenen vorausgesetzt hatten! Doch die Erfahrung hat
diese Voraussetzung Lügen gestraft. In der Wissenschaft wagt sich
somit der Mensch an etwas heran, das zwar nicht unmenschlich ist,
da er selber dazu gehört, doch aber zum grossen Teil ausser- und
übermenschlich. Sobald er also ernstlich Natur erkennen und sich
nicht mit dem Dogmatisieren in usum Delphini begnügen will, ist
der Mensch gerade in der Wissenschaft, und vor allem in der Natur-
wissenschaft im engeren Sinne des Wortes, zu einer höchsten An-
spannung seiner Phantasie genötigt, die unendlich erfindungsreich und
biegsam und elastisch sein muss. Ich weiss es, die Behauptung wider-
spricht der allgemeinen Annahme: mich dünkt es aber eine sichere
und beweisbare Thatsache, dass Philosophie und Wissenschaft höhere
Ansprüche an die Phantasie stellen, als Poesie. Das rein schöpferische
Element ist bei Männern wie Demokrit und Kant grösser als bei
Homer und Shakespeare. Gerade deswegen bleibt ihr Werk nur
äusserst Wenigen zugänglich. Freilich wurzelt diese wissenschaftliche
Phantasie in den Thatsachen, das thut aber notgedrungen alle Phan-
thasie;1) und die wissenschaftliche Phantasie ist gerade darum besonders
reich, weil ihr ungeheuer viele Thatsachen zu Gebote stehen und weil
ihr Repertorium von Thatsachen durch neue Entdeckungen unauf-
hörlich bereichert wird. Ich habe schon früher (S. 773) auf die Be-
deutung neuer Entdeckungen als Nahrung und Anregung für die
Phantasie kurz hingewiesen; diese Bedeutung reicht hinauf bis in die
höchsten Regionen der Kultur, offenbart sich aber zunächst und vor
allem in der Wissenschaft. Das wunderbare Aufblühen der Wissen-
schaft im 16. Jahrhundert -- von dem Goethe geschrieben hat: "die
Welt erlebt nicht leicht wieder eine solche Erscheinung"2) -- leitet sich

als eine Darstellung von Landschaften oder Tieren, wie sie dem Menschen erscheinen;
die kühnste Willkür eines Turner oder irgend eines allerneuesten Symbolisten kann
nie etwas anderes sein als eine extravagante Behauptung menschlicher Autonomie.
"Wenn Künstler von Natur sprechen, subintelligieren sie immer die Idee, ohne
sich's deutlich bewusst zu sein." (Goethe)
1) Siehe S. 192, 404 und 762.
2) Geschichte der Farbenlehre, Schluss der dritten Abteilung. Eine Behauptung,
die Liebig gegenzeichnet: "nach diesem 16. Jahrhundert giebt es gar keines, welches
reicher war an Männern von gleichem schöpferischem Geiste" (Augsburger Allg.
Zeitung,
1863, in den Reden und Abhandlungen, S. 272).

Die Entstehung einer neuen Welt
wie wir gesehen haben, die Wissenschaft: diese geht darauf aus, die
Natur zu erforschen, und die Natur ist nicht menschlich. Ja, wäre
sie es, wie die Hellenen vorausgesetzt hatten! Doch die Erfahrung hat
diese Voraussetzung Lügen gestraft. In der Wissenschaft wagt sich
somit der Mensch an etwas heran, das zwar nicht unmenschlich ist,
da er selber dazu gehört, doch aber zum grossen Teil ausser- und
übermenschlich. Sobald er also ernstlich Natur erkennen und sich
nicht mit dem Dogmatisieren in usum Delphini begnügen will, ist
der Mensch gerade in der Wissenschaft, und vor allem in der Natur-
wissenschaft im engeren Sinne des Wortes, zu einer höchsten An-
spannung seiner Phantasie genötigt, die unendlich erfindungsreich und
biegsam und elastisch sein muss. Ich weiss es, die Behauptung wider-
spricht der allgemeinen Annahme: mich dünkt es aber eine sichere
und beweisbare Thatsache, dass Philosophie und Wissenschaft höhere
Ansprüche an die Phantasie stellen, als Poesie. Das rein schöpferische
Element ist bei Männern wie Demokrit und Kant grösser als bei
Homer und Shakespeare. Gerade deswegen bleibt ihr Werk nur
äusserst Wenigen zugänglich. Freilich wurzelt diese wissenschaftliche
Phantasie in den Thatsachen, das thut aber notgedrungen alle Phan-
thasie;1) und die wissenschaftliche Phantasie ist gerade darum besonders
reich, weil ihr ungeheuer viele Thatsachen zu Gebote stehen und weil
ihr Repertorium von Thatsachen durch neue Entdeckungen unauf-
hörlich bereichert wird. Ich habe schon früher (S. 773) auf die Be-
deutung neuer Entdeckungen als Nahrung und Anregung für die
Phantasie kurz hingewiesen; diese Bedeutung reicht hinauf bis in die
höchsten Regionen der Kultur, offenbart sich aber zunächst und vor
allem in der Wissenschaft. Das wunderbare Aufblühen der Wissen-
schaft im 16. Jahrhundert — von dem Goethe geschrieben hat: »die
Welt erlebt nicht leicht wieder eine solche Erscheinung«2) — leitet sich

als eine Darstellung von Landschaften oder Tieren, wie sie dem Menschen erscheinen;
die kühnste Willkür eines Turner oder irgend eines allerneuesten Symbolisten kann
nie etwas anderes sein als eine extravagante Behauptung menschlicher Autonomie.
»Wenn Künstler von Natur sprechen, subintelligieren sie immer die Idee, ohne
sich’s deutlich bewusst zu sein.« (Goethe)
1) Siehe S. 192, 404 und 762.
2) Geschichte der Farbenlehre, Schluss der dritten Abteilung. Eine Behauptung,
die Liebig gegenzeichnet: »nach diesem 16. Jahrhundert giebt es gar keines, welches
reicher war an Männern von gleichem schöpferischem Geiste« (Augsburger Allg.
Zeitung,
1863, in den Reden und Abhandlungen, S. 272).
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[800/0279] Die Entstehung einer neuen Welt wie wir gesehen haben, die Wissenschaft: diese geht darauf aus, die Natur zu erforschen, und die Natur ist nicht menschlich. Ja, wäre sie es, wie die Hellenen vorausgesetzt hatten! Doch die Erfahrung hat diese Voraussetzung Lügen gestraft. In der Wissenschaft wagt sich somit der Mensch an etwas heran, das zwar nicht unmenschlich ist, da er selber dazu gehört, doch aber zum grossen Teil ausser- und übermenschlich. Sobald er also ernstlich Natur erkennen und sich nicht mit dem Dogmatisieren in usum Delphini begnügen will, ist der Mensch gerade in der Wissenschaft, und vor allem in der Natur- wissenschaft im engeren Sinne des Wortes, zu einer höchsten An- spannung seiner Phantasie genötigt, die unendlich erfindungsreich und biegsam und elastisch sein muss. Ich weiss es, die Behauptung wider- spricht der allgemeinen Annahme: mich dünkt es aber eine sichere und beweisbare Thatsache, dass Philosophie und Wissenschaft höhere Ansprüche an die Phantasie stellen, als Poesie. Das rein schöpferische Element ist bei Männern wie Demokrit und Kant grösser als bei Homer und Shakespeare. Gerade deswegen bleibt ihr Werk nur äusserst Wenigen zugänglich. Freilich wurzelt diese wissenschaftliche Phantasie in den Thatsachen, das thut aber notgedrungen alle Phan- thasie; 1) und die wissenschaftliche Phantasie ist gerade darum besonders reich, weil ihr ungeheuer viele Thatsachen zu Gebote stehen und weil ihr Repertorium von Thatsachen durch neue Entdeckungen unauf- hörlich bereichert wird. Ich habe schon früher (S. 773) auf die Be- deutung neuer Entdeckungen als Nahrung und Anregung für die Phantasie kurz hingewiesen; diese Bedeutung reicht hinauf bis in die höchsten Regionen der Kultur, offenbart sich aber zunächst und vor allem in der Wissenschaft. Das wunderbare Aufblühen der Wissen- schaft im 16. Jahrhundert — von dem Goethe geschrieben hat: »die Welt erlebt nicht leicht wieder eine solche Erscheinung« 2) — leitet sich 2) 1) Siehe S. 192, 404 und 762. 2) Geschichte der Farbenlehre, Schluss der dritten Abteilung. Eine Behauptung, die Liebig gegenzeichnet: »nach diesem 16. Jahrhundert giebt es gar keines, welches reicher war an Männern von gleichem schöpferischem Geiste« (Augsburger Allg. Zeitung, 1863, in den Reden und Abhandlungen, S. 272). 2) als eine Darstellung von Landschaften oder Tieren, wie sie dem Menschen erscheinen; die kühnste Willkür eines Turner oder irgend eines allerneuesten Symbolisten kann nie etwas anderes sein als eine extravagante Behauptung menschlicher Autonomie. »Wenn Künstler von Natur sprechen, subintelligieren sie immer die Idee, ohne sich’s deutlich bewusst zu sein.« (Goethe)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 800. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/279>, abgerufen am 22.11.2024.