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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
käme also ohne Phantasie zu Stande; woraus dann die weitere --
wirklich ungeheuerliche -- Behauptung entsteht: "Kunst erfindet That-
sachen, Wissenschaft erklärt Thatsachen." Nie und nimmer erklärt
Wissenschaft irgend etwas! Das Wort "erklären" hat für sie keine
Bedeutung; es wäre denn, man verstünde darunter ein blosses "klarer
sichtbar machen". Entschlüpft mir der Federhalter aus den Fingern,
so fällt er zu Boden: das Gesetz der Gravitation ist eine Theorie,
welche alle hierbei in Betracht kommenden Verhältnisse unübertrefflich
schematisiert; doch was erklärt es? Hypostasiere ich die Anziehungskraft,
so bin ich gerade so weit wie im ersten Buche Mosis, Kap. 1, Vers 1,
d. h. ich stelle eine vollkommen undenkbare, unerklärbare Wesenheit
als Erklärung hin. Sauerstoff und Wasserstoff verbinden sich zu Wasser;
gut: welche Thatsache ist hier die erklärende, welche die erklärte?
Erklären Hydrogen und Oxygen Wasser? oder werden sie durch Wasser
erklärt? Man sieht, dieses Wort hat gerade in der Wissenschaft nicht
den Schatten eines Sinnes. Bei verwickelteren Phänomenen leuchtet
dies freilich nicht sofort ein, doch je tiefer die Analyse eindringt, um
so mehr schwindet der Wahn, dass mit dem Erklären eine wirkliche
Zunahme nicht bloss an Wissen, sondern auch an Erkenntnis stattge-
funden habe. Sagt mir der Gärtner z. B., "diese Pflanze sucht die
Sonne", so glaube ich zunächst, ebenso wie der Gärtner es glaubt,
eine vollgültige "Erklärung" zu besitzen. Meldet aber der Physiolog:
starkes Licht hemmt das Wachstum, darum wächst die Pflanze schneller
auf der Schattenseite und wendet sich in Folge dessen zur Sonne,
zeigt er mir den Einfluss der Streckungsfähigkeit des betreffenden
Pflanzenteils, der verschieden gebrochenen Strahlen u. s. w., kurz,
deckt er den Mechanismus des Vorganges auf, und fasst er alle be-
kannten Thatsachen zu einer Theorie des "Heliotropismus" zusammen,
so empfinde ich, dass ich zwar enorm viel dazu gelernt habe, doch
dass der Wahn einer "Erklärung" bedeutend verblasst sei. Je deut-
licher das Wie, um so verschwommener das Warum. Dass die Pflanze
"die Sonne sucht", hatte den Eindruck einer vollgültigen Erklärung
gemacht, denn ich selber, ich Mensch, suche die Sonne; doch dass
starke Beleuchtung die Zellteilung und damit die Verlängerung des
Stengels auf der einen Seite hemmt und dadurch Biegung verursacht,
ist eine neue Thatsache, die wieder treibt, Erläuterung aus ferneren
Ursachen zu suchen und meinen ursprünglichen naiven Anthropomor-
phismus so gründlich verscheucht, dass ich mich zu fragen beginne,
durch welche mechanische Verkettung ich veranlasst werde, mich

Die Entstehung einer neuen Welt.
käme also ohne Phantasie zu Stande; woraus dann die weitere —
wirklich ungeheuerliche — Behauptung entsteht: »Kunst erfindet That-
sachen, Wissenschaft erklärt Thatsachen.« Nie und nimmer erklärt
Wissenschaft irgend etwas! Das Wort »erklären« hat für sie keine
Bedeutung; es wäre denn, man verstünde darunter ein blosses »klarer
sichtbar machen«. Entschlüpft mir der Federhalter aus den Fingern,
so fällt er zu Boden: das Gesetz der Gravitation ist eine Theorie,
welche alle hierbei in Betracht kommenden Verhältnisse unübertrefflich
schematisiert; doch was erklärt es? Hypostasiere ich die Anziehungskraft,
so bin ich gerade so weit wie im ersten Buche Mosis, Kap. 1, Vers 1,
d. h. ich stelle eine vollkommen undenkbare, unerklärbare Wesenheit
als Erklärung hin. Sauerstoff und Wasserstoff verbinden sich zu Wasser;
gut: welche Thatsache ist hier die erklärende, welche die erklärte?
Erklären Hydrogen und Oxygen Wasser? oder werden sie durch Wasser
erklärt? Man sieht, dieses Wort hat gerade in der Wissenschaft nicht
den Schatten eines Sinnes. Bei verwickelteren Phänomenen leuchtet
dies freilich nicht sofort ein, doch je tiefer die Analyse eindringt, um
so mehr schwindet der Wahn, dass mit dem Erklären eine wirkliche
Zunahme nicht bloss an Wissen, sondern auch an Erkenntnis stattge-
funden habe. Sagt mir der Gärtner z. B., »diese Pflanze sucht die
Sonne«, so glaube ich zunächst, ebenso wie der Gärtner es glaubt,
eine vollgültige »Erklärung« zu besitzen. Meldet aber der Physiolog:
starkes Licht hemmt das Wachstum, darum wächst die Pflanze schneller
auf der Schattenseite und wendet sich in Folge dessen zur Sonne,
zeigt er mir den Einfluss der Streckungsfähigkeit des betreffenden
Pflanzenteils, der verschieden gebrochenen Strahlen u. s. w., kurz,
deckt er den Mechanismus des Vorganges auf, und fasst er alle be-
kannten Thatsachen zu einer Theorie des »Heliotropismus« zusammen,
so empfinde ich, dass ich zwar enorm viel dazu gelernt habe, doch
dass der Wahn einer »Erklärung« bedeutend verblasst sei. Je deut-
licher das Wie, um so verschwommener das Warum. Dass die Pflanze
»die Sonne sucht«, hatte den Eindruck einer vollgültigen Erklärung
gemacht, denn ich selber, ich Mensch, suche die Sonne; doch dass
starke Beleuchtung die Zellteilung und damit die Verlängerung des
Stengels auf der einen Seite hemmt und dadurch Biegung verursacht,
ist eine neue Thatsache, die wieder treibt, Erläuterung aus ferneren
Ursachen zu suchen und meinen ursprünglichen naiven Anthropomor-
phismus so gründlich verscheucht, dass ich mich zu fragen beginne,
durch welche mechanische Verkettung ich veranlasst werde, mich

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[798/0277] Die Entstehung einer neuen Welt. käme also ohne Phantasie zu Stande; woraus dann die weitere — wirklich ungeheuerliche — Behauptung entsteht: »Kunst erfindet That- sachen, Wissenschaft erklärt Thatsachen.« Nie und nimmer erklärt Wissenschaft irgend etwas! Das Wort »erklären« hat für sie keine Bedeutung; es wäre denn, man verstünde darunter ein blosses »klarer sichtbar machen«. Entschlüpft mir der Federhalter aus den Fingern, so fällt er zu Boden: das Gesetz der Gravitation ist eine Theorie, welche alle hierbei in Betracht kommenden Verhältnisse unübertrefflich schematisiert; doch was erklärt es? Hypostasiere ich die Anziehungskraft, so bin ich gerade so weit wie im ersten Buche Mosis, Kap. 1, Vers 1, d. h. ich stelle eine vollkommen undenkbare, unerklärbare Wesenheit als Erklärung hin. Sauerstoff und Wasserstoff verbinden sich zu Wasser; gut: welche Thatsache ist hier die erklärende, welche die erklärte? Erklären Hydrogen und Oxygen Wasser? oder werden sie durch Wasser erklärt? Man sieht, dieses Wort hat gerade in der Wissenschaft nicht den Schatten eines Sinnes. Bei verwickelteren Phänomenen leuchtet dies freilich nicht sofort ein, doch je tiefer die Analyse eindringt, um so mehr schwindet der Wahn, dass mit dem Erklären eine wirkliche Zunahme nicht bloss an Wissen, sondern auch an Erkenntnis stattge- funden habe. Sagt mir der Gärtner z. B., »diese Pflanze sucht die Sonne«, so glaube ich zunächst, ebenso wie der Gärtner es glaubt, eine vollgültige »Erklärung« zu besitzen. Meldet aber der Physiolog: starkes Licht hemmt das Wachstum, darum wächst die Pflanze schneller auf der Schattenseite und wendet sich in Folge dessen zur Sonne, zeigt er mir den Einfluss der Streckungsfähigkeit des betreffenden Pflanzenteils, der verschieden gebrochenen Strahlen u. s. w., kurz, deckt er den Mechanismus des Vorganges auf, und fasst er alle be- kannten Thatsachen zu einer Theorie des »Heliotropismus« zusammen, so empfinde ich, dass ich zwar enorm viel dazu gelernt habe, doch dass der Wahn einer »Erklärung« bedeutend verblasst sei. Je deut- licher das Wie, um so verschwommener das Warum. Dass die Pflanze »die Sonne sucht«, hatte den Eindruck einer vollgültigen Erklärung gemacht, denn ich selber, ich Mensch, suche die Sonne; doch dass starke Beleuchtung die Zellteilung und damit die Verlängerung des Stengels auf der einen Seite hemmt und dadurch Biegung verursacht, ist eine neue Thatsache, die wieder treibt, Erläuterung aus ferneren Ursachen zu suchen und meinen ursprünglichen naiven Anthropomor- phismus so gründlich verscheucht, dass ich mich zu fragen beginne, durch welche mechanische Verkettung ich veranlasst werde, mich

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 798. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/277>, abgerufen am 22.11.2024.