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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wissenschaft.
Thatsachen stehen; was von der Idee durchaus nicht gilt, deren Wert
vielmehr allein von der Bedeutung der einen Persönlichkeit abhängt.
Leonardo da Vinci hat z. B. in Anlehnung an sehr wenige That-
sachen die Grundprinzipien der Geologie so genau richtig erfasst,
dass erst unser Jahrhundert die nötige Erfahrung besass, um die Richtig-
keit seiner Intuition wissenschaftlich (und das heisst theoretisch) darzu-
thun; er hat ebenfalls den Kreislauf des Blutes -- nicht dargethan,
im Einzelnen auch gewiss sich nicht richtig vorgestellt noch mechanisch
begriffen, -- doch erraten, d. h. also, er hatte die Idee der Zirku-
lation, nicht die Theorie.

Auf die unvergleichliche Bedeutung des Genies für unsere ganze
Kultur komme ich später in anderem Zusammenhang zurück; zu er-
klären giebt es da nichts; es genügt darauf hingewiesen zu haben.1)
Hier aber, für das Verständnis unserer Wissenschaft, bleibt noch die
eine Hauptfrage zu beantworten: wie entstehen Theorien? und auch
hier wieder hoffe ich durch die Kritik eines bekannten Ausspruches
Liebig's (in welchem eine weit verbreitete Ansicht zu Worte kommt)
den richtigen Weg weisen zu können; wobei es sich herausstellen wird,
dass unsere grossen wissenschaftlichen Theorien weder ohne das Genie
denkbar sind, noch dem Genie allein ihre Ausgestaltung verdanken.

Der berühmte Chemiker schreibt: "Die künstlerischen Ideen
wurzeln in der Phantasie, die wissenschaftlichen im Verstande."2)
Dieser kurze Satz wimmelt, wenn ich nicht irre, von psychologischen
Ungenauigkeiten, doch hat für uns hier nur das Eine besonderes Inter-
esse: die Phantasie soll angeblich der Kunst allein dienen, Wissenschaft

1) Ich will nur den in philosophischen Dingen minder Bewanderten schon
hier darauf aufmerksam machen, dass am Schlusse der Epoche, die uns in diesem
Kapitel beschäftigt, diese Bedeutung des Genies erkannt und mit unvergleichlichem
Tiefsinn analysiert ward: der grosse Kant hat nämlich als das spezifisch Unter-
scheidende des Genies das relative Vorwalten der "Natur" (also gewissermassen
des Ausser- und Übermenschlichen) im Gegensatz zu der "Überlegung" (d. h. also
zum beschränkt Logisch-Menschlichen) bestimmt (siehe namentlich die Kritik der
Urteilskraft
). Damit soll natürlich nicht gesagt sein, das geniale Individuum besitze
weniger "Überlegung", sondern vielmehr, dass bei ihm zu einem Maximum an
logischer Denkkraft noch ein Anderes hinzukomme; dieses Andere ist gerade die
Hefe, die den Teig des Wissens in die Höhe treibt.
2) Gleich dem früheren Citat aus der Rede über Francis Bacon vom Jahre
1863. Damit er Liebig nicht ungerecht beurteile, bitte ich den Leser, seinen ganz
anders lautenden Ausspruch auf S. 732 wieder zu lesen. Den lapsus calami des
grossen Naturforschers benutze ich hier nicht, weil ich ihn zurechtweisen will,
sondern weil diese Polemik meiner eigenen These zu voller Deutlichkeit verhilft.

Wissenschaft.
Thatsachen stehen; was von der Idee durchaus nicht gilt, deren Wert
vielmehr allein von der Bedeutung der einen Persönlichkeit abhängt.
Leonardo da Vinci hat z. B. in Anlehnung an sehr wenige That-
sachen die Grundprinzipien der Geologie so genau richtig erfasst,
dass erst unser Jahrhundert die nötige Erfahrung besass, um die Richtig-
keit seiner Intuition wissenschaftlich (und das heisst theoretisch) darzu-
thun; er hat ebenfalls den Kreislauf des Blutes — nicht dargethan,
im Einzelnen auch gewiss sich nicht richtig vorgestellt noch mechanisch
begriffen, — doch erraten, d. h. also, er hatte die Idee der Zirku-
lation, nicht die Theorie.

Auf die unvergleichliche Bedeutung des Genies für unsere ganze
Kultur komme ich später in anderem Zusammenhang zurück; zu er-
klären giebt es da nichts; es genügt darauf hingewiesen zu haben.1)
Hier aber, für das Verständnis unserer Wissenschaft, bleibt noch die
eine Hauptfrage zu beantworten: wie entstehen Theorien? und auch
hier wieder hoffe ich durch die Kritik eines bekannten Ausspruches
Liebig’s (in welchem eine weit verbreitete Ansicht zu Worte kommt)
den richtigen Weg weisen zu können; wobei es sich herausstellen wird,
dass unsere grossen wissenschaftlichen Theorien weder ohne das Genie
denkbar sind, noch dem Genie allein ihre Ausgestaltung verdanken.

Der berühmte Chemiker schreibt: »Die künstlerischen Ideen
wurzeln in der Phantasie, die wissenschaftlichen im Verstande.«2)
Dieser kurze Satz wimmelt, wenn ich nicht irre, von psychologischen
Ungenauigkeiten, doch hat für uns hier nur das Eine besonderes Inter-
esse: die Phantasie soll angeblich der Kunst allein dienen, Wissenschaft

1) Ich will nur den in philosophischen Dingen minder Bewanderten schon
hier darauf aufmerksam machen, dass am Schlusse der Epoche, die uns in diesem
Kapitel beschäftigt, diese Bedeutung des Genies erkannt und mit unvergleichlichem
Tiefsinn analysiert ward: der grosse Kant hat nämlich als das spezifisch Unter-
scheidende des Genies das relative Vorwalten der »Natur« (also gewissermassen
des Ausser- und Übermenschlichen) im Gegensatz zu der »Überlegung« (d. h. also
zum beschränkt Logisch-Menschlichen) bestimmt (siehe namentlich die Kritik der
Urteilskraft
). Damit soll natürlich nicht gesagt sein, das geniale Individuum besitze
weniger »Überlegung«, sondern vielmehr, dass bei ihm zu einem Maximum an
logischer Denkkraft noch ein Anderes hinzukomme; dieses Andere ist gerade die
Hefe, die den Teig des Wissens in die Höhe treibt.
2) Gleich dem früheren Citat aus der Rede über Francis Bacon vom Jahre
1863. Damit er Liebig nicht ungerecht beurteile, bitte ich den Leser, seinen ganz
anders lautenden Ausspruch auf S. 732 wieder zu lesen. Den lapsus calami des
grossen Naturforschers benutze ich hier nicht, weil ich ihn zurechtweisen will,
sondern weil diese Polemik meiner eigenen These zu voller Deutlichkeit verhilft.
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[797/0276] Wissenschaft. Thatsachen stehen; was von der Idee durchaus nicht gilt, deren Wert vielmehr allein von der Bedeutung der einen Persönlichkeit abhängt. Leonardo da Vinci hat z. B. in Anlehnung an sehr wenige That- sachen die Grundprinzipien der Geologie so genau richtig erfasst, dass erst unser Jahrhundert die nötige Erfahrung besass, um die Richtig- keit seiner Intuition wissenschaftlich (und das heisst theoretisch) darzu- thun; er hat ebenfalls den Kreislauf des Blutes — nicht dargethan, im Einzelnen auch gewiss sich nicht richtig vorgestellt noch mechanisch begriffen, — doch erraten, d. h. also, er hatte die Idee der Zirku- lation, nicht die Theorie. Auf die unvergleichliche Bedeutung des Genies für unsere ganze Kultur komme ich später in anderem Zusammenhang zurück; zu er- klären giebt es da nichts; es genügt darauf hingewiesen zu haben. 1) Hier aber, für das Verständnis unserer Wissenschaft, bleibt noch die eine Hauptfrage zu beantworten: wie entstehen Theorien? und auch hier wieder hoffe ich durch die Kritik eines bekannten Ausspruches Liebig’s (in welchem eine weit verbreitete Ansicht zu Worte kommt) den richtigen Weg weisen zu können; wobei es sich herausstellen wird, dass unsere grossen wissenschaftlichen Theorien weder ohne das Genie denkbar sind, noch dem Genie allein ihre Ausgestaltung verdanken. Der berühmte Chemiker schreibt: »Die künstlerischen Ideen wurzeln in der Phantasie, die wissenschaftlichen im Verstande.« 2) Dieser kurze Satz wimmelt, wenn ich nicht irre, von psychologischen Ungenauigkeiten, doch hat für uns hier nur das Eine besonderes Inter- esse: die Phantasie soll angeblich der Kunst allein dienen, Wissenschaft 1) Ich will nur den in philosophischen Dingen minder Bewanderten schon hier darauf aufmerksam machen, dass am Schlusse der Epoche, die uns in diesem Kapitel beschäftigt, diese Bedeutung des Genies erkannt und mit unvergleichlichem Tiefsinn analysiert ward: der grosse Kant hat nämlich als das spezifisch Unter- scheidende des Genies das relative Vorwalten der »Natur« (also gewissermassen des Ausser- und Übermenschlichen) im Gegensatz zu der »Überlegung« (d. h. also zum beschränkt Logisch-Menschlichen) bestimmt (siehe namentlich die Kritik der Urteilskraft). Damit soll natürlich nicht gesagt sein, das geniale Individuum besitze weniger »Überlegung«, sondern vielmehr, dass bei ihm zu einem Maximum an logischer Denkkraft noch ein Anderes hinzukomme; dieses Andere ist gerade die Hefe, die den Teig des Wissens in die Höhe treibt. 2) Gleich dem früheren Citat aus der Rede über Francis Bacon vom Jahre 1863. Damit er Liebig nicht ungerecht beurteile, bitte ich den Leser, seinen ganz anders lautenden Ausspruch auf S. 732 wieder zu lesen. Den lapsus calami des grossen Naturforschers benutze ich hier nicht, weil ich ihn zurechtweisen will, sondern weil diese Polemik meiner eigenen These zu voller Deutlichkeit verhilft.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 797. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/276>, abgerufen am 23.11.2024.