und gerade sie wurde mit naiver Unbewusstheit für "Natur" ange- sehen. Die Entstehung der modernen Pflanzensystematik liefert übrigens ein so vortreffliches und leicht verständliches Beispiel unserer ger- manischen Art, wissenschaftlich zu arbeiten, dass ich dem Leser einige Anhaltspunkte zum weiteren Nachdenken darüber geben will.
Julius Sachs, der berühmte Botaniker, berichtet über die Anfänge unserer Pflanzenkunde in der Zeit zwischen dem 14. und dem 17. Jahr- hundert, dass sie, solange der Einfluss des Aristoteles vorwaltete, nicht einen Schritt weiter zu bringen war; einzig den ungelehrten Kräuter- sammlern verdanken wir das Erwachen echter Wissenschaft. Wer gelehrt genug war, um Aristoteles zu verstehen, "richtete in der Natur- geschichte der Pflanzen nur Unheil an". Dagegen kümmerten sich die ersten Verfasser der Kräuterbücher darum nicht weiter, sondern sie häuften Hunderte und Tausende möglichst genauer Einzelbeschrei- bungen von Pflanzen an. Die Geschichte zeigt, dass auf diesem Wege im Laufe weniger Jahrhunderte eine neue Wissenschaft entstanden ist, während die philosophische Botanik des Aristoteles und Theophrast zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt hat.1) Der erste gelehrte Systematiker von Bedeutung unter uns, Caspar Bauhin, (Basel, zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts), der an manchen Orten ein lebhaftes Gefühl für natürliche, d. h. strukturelle Verwandtschaft zeigt, wirft alles wieder durcheinander, weil er (durch Aristoteles beeinflusst) glaubt: "von dem Unvollkommensten zu dem immer Vollkommeneren" fortschreiten zu müssen -- als ob der Mensch ein Organ besässe, um relative "Voll- kommenheit" zu bemessen! -- und nun natürlich (nach Aristoteles' Vor- gang) die grossen Bäume für das Vollkommenste, die kleinen Gräser für das Unvollkommenste hält und derlei menschliche Narrheiten mehr.2) Doch ging das treue Ansammeln des thatsächlich Beobachteten immer weiter, sowie das Bestreben, das enorm anwachsende Material derartig zusammenzufassen, dass das System (d. h. auf deutsch "Zusammen- stellung") den Bedürfnissen des Menschengeistes entspräche und zugleich den Thatsachen der Natur möglichst genau sich anschmiege. Dies ist der springende Punkt; so entsteht die uns eigentümliche Ellipse. Das logisch Systematische kommt zuletzt, nicht zuerst, und (was selbst ein Julius Sachs in Folge seines beschränkten, charakteristisch jüdischen Gesichtskreises nicht einsieht) wir sind jeden Augenblick bereit, unsere Systematik, wie
1)Geschichte der Botanik, 1875, S. 18.
2) Sachs: a. a. O., S. 38.
Die Entstehung einer neuen Welt.
und gerade sie wurde mit naiver Unbewusstheit für »Natur« ange- sehen. Die Entstehung der modernen Pflanzensystematik liefert übrigens ein so vortreffliches und leicht verständliches Beispiel unserer ger- manischen Art, wissenschaftlich zu arbeiten, dass ich dem Leser einige Anhaltspunkte zum weiteren Nachdenken darüber geben will.
Julius Sachs, der berühmte Botaniker, berichtet über die Anfänge unserer Pflanzenkunde in der Zeit zwischen dem 14. und dem 17. Jahr- hundert, dass sie, solange der Einfluss des Aristoteles vorwaltete, nicht einen Schritt weiter zu bringen war; einzig den ungelehrten Kräuter- sammlern verdanken wir das Erwachen echter Wissenschaft. Wer gelehrt genug war, um Aristoteles zu verstehen, »richtete in der Natur- geschichte der Pflanzen nur Unheil an«. Dagegen kümmerten sich die ersten Verfasser der Kräuterbücher darum nicht weiter, sondern sie häuften Hunderte und Tausende möglichst genauer Einzelbeschrei- bungen von Pflanzen an. Die Geschichte zeigt, dass auf diesem Wege im Laufe weniger Jahrhunderte eine neue Wissenschaft entstanden ist, während die philosophische Botanik des Aristoteles und Theophrast zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt hat.1) Der erste gelehrte Systematiker von Bedeutung unter uns, Caspar Bauhin, (Basel, zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts), der an manchen Orten ein lebhaftes Gefühl für natürliche, d. h. strukturelle Verwandtschaft zeigt, wirft alles wieder durcheinander, weil er (durch Aristoteles beeinflusst) glaubt: »von dem Unvollkommensten zu dem immer Vollkommeneren« fortschreiten zu müssen — als ob der Mensch ein Organ besässe, um relative »Voll- kommenheit« zu bemessen! — und nun natürlich (nach Aristoteles’ Vor- gang) die grossen Bäume für das Vollkommenste, die kleinen Gräser für das Unvollkommenste hält und derlei menschliche Narrheiten mehr.2) Doch ging das treue Ansammeln des thatsächlich Beobachteten immer weiter, sowie das Bestreben, das enorm anwachsende Material derartig zusammenzufassen, dass das System (d. h. auf deutsch »Zusammen- stellung«) den Bedürfnissen des Menschengeistes entspräche und zugleich den Thatsachen der Natur möglichst genau sich anschmiege. Dies ist der springende Punkt; so entsteht die uns eigentümliche Ellipse. Das logisch Systematische kommt zuletzt, nicht zuerst, und (was selbst ein Julius Sachs in Folge seines beschränkten, charakteristisch jüdischen Gesichtskreises nicht einsieht) wir sind jeden Augenblick bereit, unsere Systematik, wie
1)Geschichte der Botanik, 1875, S. 18.
2) Sachs: a. a. O., S. 38.
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Die Entstehung einer neuen Welt.
und gerade sie wurde mit naiver Unbewusstheit für »Natur« ange-
sehen. Die Entstehung der modernen Pflanzensystematik liefert übrigens
ein so vortreffliches und leicht verständliches Beispiel unserer ger-
manischen Art, wissenschaftlich zu arbeiten, dass ich dem Leser
einige Anhaltspunkte zum weiteren Nachdenken darüber geben will.
Julius Sachs, der berühmte Botaniker, berichtet über die Anfänge
unserer Pflanzenkunde in der Zeit zwischen dem 14. und dem 17. Jahr-
hundert, dass sie, solange der Einfluss des Aristoteles vorwaltete, nicht
einen Schritt weiter zu bringen war; einzig den ungelehrten Kräuter-
sammlern verdanken wir das Erwachen echter Wissenschaft. Wer
gelehrt genug war, um Aristoteles zu verstehen, »richtete in der Natur-
geschichte der Pflanzen nur Unheil an«. Dagegen kümmerten sich
die ersten Verfasser der Kräuterbücher darum nicht weiter, sondern
sie häuften Hunderte und Tausende möglichst genauer Einzelbeschrei-
bungen von Pflanzen an. Die Geschichte zeigt, dass auf diesem Wege
im Laufe weniger Jahrhunderte eine neue Wissenschaft entstanden ist,
während die philosophische Botanik des Aristoteles und Theophrast
zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt hat. 1) Der erste gelehrte
Systematiker von Bedeutung unter uns, Caspar Bauhin, (Basel, zweite
Hälfte des 16. Jahrhunderts), der an manchen Orten ein lebhaftes Gefühl
für natürliche, d. h. strukturelle Verwandtschaft zeigt, wirft alles wieder
durcheinander, weil er (durch Aristoteles beeinflusst) glaubt: »von dem
Unvollkommensten zu dem immer Vollkommeneren« fortschreiten zu
müssen — als ob der Mensch ein Organ besässe, um relative »Voll-
kommenheit« zu bemessen! — und nun natürlich (nach Aristoteles’ Vor-
gang) die grossen Bäume für das Vollkommenste, die kleinen Gräser für
das Unvollkommenste hält und derlei menschliche Narrheiten mehr. 2)
Doch ging das treue Ansammeln des thatsächlich Beobachteten immer
weiter, sowie das Bestreben, das enorm anwachsende Material derartig
zusammenzufassen, dass das System (d. h. auf deutsch »Zusammen-
stellung«) den Bedürfnissen des Menschengeistes entspräche und zugleich
den Thatsachen der Natur möglichst genau sich anschmiege. Dies ist der
springende Punkt; so entsteht die uns eigentümliche Ellipse. Das logisch
Systematische kommt zuletzt, nicht zuerst, und (was selbst ein Julius Sachs
in Folge seines beschränkten, charakteristisch jüdischen Gesichtskreises
nicht einsieht) wir sind jeden Augenblick bereit, unsere Systematik, wie
1) Geschichte der Botanik, 1875, S. 18.
2) Sachs: a. a. O., S. 38.
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 790. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/269>, abgerufen am 22.11.2024.
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