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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wissenschaft.
früher unsere Götter, über Bord zu werfen, denn im Grunde genommen
bedeutet sie für uns immer nur ein Provisorisches, einen Notbehelf.
Die ungelehrten Kräutersammler und -beschreiber hatten die natür-
lichen Verwandtschaften der Pflanzen durch Übung des Auges heraus-
gefunden, lange ehe die Gelehrten an die Errichtung von Systemen
gingen. Und aus diesem Grunde: weil nicht das Logische (immer
ein beschränkt Menschliches), sondern das Intuitive (d. h. das Geschaute
und gleichsam durch Verwandtschaft mit der Natur vom Menschen
Erratene) bei uns das Grundlegende ist, darum besitzen nachher unsere
wissenschaftlichen Systeme einen so grossen Teil Naturwahrheit. Der
Hellene hatte nur an die Bedürfnisse des Menschengeistes gedacht;
wir aber wollten der Natur beikommen und ahnten, dass wir ihr
Geheimnis niemals durchdringen, dass wir ihr eigenes "System" nie
würden darstellen können. Trotzdem waren wir entschlossen, ihr
möglichst nahe zu kommen und zwar auf einem Wege, der uns
auch weiterhin immer grössere Annäherung gestatten würde. Darum
warfen wir jedes rein künstliche System, wie das des Linnäus, von
uns; es enthält viel Richtiges, führt aber nicht weiter. Inzwischen
hatten Männer wie Tournefort, John Ray, Bernard de Jussieu, Antoine
Laurent de Jussieu gelebt,1) sowie Andere, die hier nicht zu nennen
sind, und aus ihren Arbeiten hatte sich die Thatsache ergeben, dass
es absolut unmöglich ist, die der Natur abgeschaute Klassifikation der
Pflanzen auf nur einem anatomischen Charakter aufzubauen, wie das
die menschliche Vereinfachungssucht und logische Manie durchsetzen
wollten und wofür das System des Linnäus das bekannteste und auch
gelungenste Beispiel bildet. Vielmehr stellte es sich heraus, dass man
für verschiedengradige Unterordnungen verschiedene und für be-
sondere Pflanzengruppen besondere Merkmale wählen muss. Ausser-
dem entdeckte man eine merkwürdige und für die weitere Ent-
wickelung der Wissenschaft ausserordentlich bedeutungsvolle That-
sache: dass nämlich, um die durch geschärfte Anschauung bereits er-
kannte natürliche Verwandtschaft der Pflanzen auf irgend ein einfaches,
logisches, systematisches Prinzip zurückzuführen, der allgemeine äussere
Habitus -- für den Kenner ein so sicheres Indicium -- gar nicht zu
gebrauchen sei, sondern lediglich Merkmale aus dem verborgensten
Innern der Struktur dienen können, und zwar zum grössten Teil solche,

1) Das grundlegende Werk des Letzteren, Genera plantarum secundum ordines
naturales disposita,
erschien an der Grenze unseres Jahrhunderts, 1774.

Wissenschaft.
früher unsere Götter, über Bord zu werfen, denn im Grunde genommen
bedeutet sie für uns immer nur ein Provisorisches, einen Notbehelf.
Die ungelehrten Kräutersammler und -beschreiber hatten die natür-
lichen Verwandtschaften der Pflanzen durch Übung des Auges heraus-
gefunden, lange ehe die Gelehrten an die Errichtung von Systemen
gingen. Und aus diesem Grunde: weil nicht das Logische (immer
ein beschränkt Menschliches), sondern das Intuitive (d. h. das Geschaute
und gleichsam durch Verwandtschaft mit der Natur vom Menschen
Erratene) bei uns das Grundlegende ist, darum besitzen nachher unsere
wissenschaftlichen Systeme einen so grossen Teil Naturwahrheit. Der
Hellene hatte nur an die Bedürfnisse des Menschengeistes gedacht;
wir aber wollten der Natur beikommen und ahnten, dass wir ihr
Geheimnis niemals durchdringen, dass wir ihr eigenes »System« nie
würden darstellen können. Trotzdem waren wir entschlossen, ihr
möglichst nahe zu kommen und zwar auf einem Wege, der uns
auch weiterhin immer grössere Annäherung gestatten würde. Darum
warfen wir jedes rein künstliche System, wie das des Linnäus, von
uns; es enthält viel Richtiges, führt aber nicht weiter. Inzwischen
hatten Männer wie Tournefort, John Ray, Bernard de Jussieu, Antoine
Laurent de Jussieu gelebt,1) sowie Andere, die hier nicht zu nennen
sind, und aus ihren Arbeiten hatte sich die Thatsache ergeben, dass
es absolut unmöglich ist, die der Natur abgeschaute Klassifikation der
Pflanzen auf nur einem anatomischen Charakter aufzubauen, wie das
die menschliche Vereinfachungssucht und logische Manie durchsetzen
wollten und wofür das System des Linnäus das bekannteste und auch
gelungenste Beispiel bildet. Vielmehr stellte es sich heraus, dass man
für verschiedengradige Unterordnungen verschiedene und für be-
sondere Pflanzengruppen besondere Merkmale wählen muss. Ausser-
dem entdeckte man eine merkwürdige und für die weitere Ent-
wickelung der Wissenschaft ausserordentlich bedeutungsvolle That-
sache: dass nämlich, um die durch geschärfte Anschauung bereits er-
kannte natürliche Verwandtschaft der Pflanzen auf irgend ein einfaches,
logisches, systematisches Prinzip zurückzuführen, der allgemeine äussere
Habitus — für den Kenner ein so sicheres Indicium — gar nicht zu
gebrauchen sei, sondern lediglich Merkmale aus dem verborgensten
Innern der Struktur dienen können, und zwar zum grössten Teil solche,

1) Das grundlegende Werk des Letzteren, Genera plantarum secundum ordines
naturales disposita,
erschien an der Grenze unseres Jahrhunderts, 1774.
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[791/0270] Wissenschaft. früher unsere Götter, über Bord zu werfen, denn im Grunde genommen bedeutet sie für uns immer nur ein Provisorisches, einen Notbehelf. Die ungelehrten Kräutersammler und -beschreiber hatten die natür- lichen Verwandtschaften der Pflanzen durch Übung des Auges heraus- gefunden, lange ehe die Gelehrten an die Errichtung von Systemen gingen. Und aus diesem Grunde: weil nicht das Logische (immer ein beschränkt Menschliches), sondern das Intuitive (d. h. das Geschaute und gleichsam durch Verwandtschaft mit der Natur vom Menschen Erratene) bei uns das Grundlegende ist, darum besitzen nachher unsere wissenschaftlichen Systeme einen so grossen Teil Naturwahrheit. Der Hellene hatte nur an die Bedürfnisse des Menschengeistes gedacht; wir aber wollten der Natur beikommen und ahnten, dass wir ihr Geheimnis niemals durchdringen, dass wir ihr eigenes »System« nie würden darstellen können. Trotzdem waren wir entschlossen, ihr möglichst nahe zu kommen und zwar auf einem Wege, der uns auch weiterhin immer grössere Annäherung gestatten würde. Darum warfen wir jedes rein künstliche System, wie das des Linnäus, von uns; es enthält viel Richtiges, führt aber nicht weiter. Inzwischen hatten Männer wie Tournefort, John Ray, Bernard de Jussieu, Antoine Laurent de Jussieu gelebt, 1) sowie Andere, die hier nicht zu nennen sind, und aus ihren Arbeiten hatte sich die Thatsache ergeben, dass es absolut unmöglich ist, die der Natur abgeschaute Klassifikation der Pflanzen auf nur einem anatomischen Charakter aufzubauen, wie das die menschliche Vereinfachungssucht und logische Manie durchsetzen wollten und wofür das System des Linnäus das bekannteste und auch gelungenste Beispiel bildet. Vielmehr stellte es sich heraus, dass man für verschiedengradige Unterordnungen verschiedene und für be- sondere Pflanzengruppen besondere Merkmale wählen muss. Ausser- dem entdeckte man eine merkwürdige und für die weitere Ent- wickelung der Wissenschaft ausserordentlich bedeutungsvolle That- sache: dass nämlich, um die durch geschärfte Anschauung bereits er- kannte natürliche Verwandtschaft der Pflanzen auf irgend ein einfaches, logisches, systematisches Prinzip zurückzuführen, der allgemeine äussere Habitus — für den Kenner ein so sicheres Indicium — gar nicht zu gebrauchen sei, sondern lediglich Merkmale aus dem verborgensten Innern der Struktur dienen können, und zwar zum grössten Teil solche, 1) Das grundlegende Werk des Letzteren, Genera plantarum secundum ordines naturales disposita, erschien an der Grenze unseres Jahrhunderts, 1774.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 791. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/270>, abgerufen am 17.05.2024.