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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wissenschaft.

Dass ein mathematisches Verfahren auf andere Gegenstände,Das Wesen
unserer
Systematik.

namentlich auf die Beobachtungswissenschaften nicht unmittelbar über-
tragbar ist, versteht sich von selbst; ich halte es kaum für nötig, mich
oder Andere hier gegen ein derartiges Missverständnis in Schutz zu
nehmen. Weiss man aber, wie wir in der Mathematik vorgegangen
sind, so weiss man auch, wessen man sich bei uns anderwärts zu
gewärtigen hat, denn derselbe Geist wird, wenn nicht ähnlich, da der
Gegenstand dies unmöglich macht, doch analog verfahren. Unbe-
dingten Respekt vor der Natur (d. h. vor der Beobachtung) und kühne
Unbefangenheit in der Anwendung der Mittel, welche uns der Menschen-
geist zur Deutung und Bearbeitung an die Hand giebt: diese Prinzi-
pien finden wir überall wieder. Man besuche ein Kolleg über Pflanzen-
systematik: der Neophyt wird erstaunt sein, von Blumen reden zu
hören, die gar nicht existieren, und ihre "Diagramme" aufs schwarze
Brett zeichnen zu sehen; das sind sogenannte Typen, rein "imaginäre
Grössen", durch deren Annahme die Struktur der wirklich vorhandenen
Blüten erläutert, sowie der Zusammenhang des in dem besonderen
Falle zu Grunde liegenden strukturellen (also eigentlich mechanischen)
Planes mit anderen verwandten oder abweichenden Plänen dargethan
wird. Das rein Menschliche an einem solchen Verfahren muss jedem
noch so wenig wissenschaftlich Gebildeten sofort auffallen. Doch man
glaube beileibe nicht, dass was hier vorgetragen wird, ein durchaus
künstliches, willkürliches System sei; ganz im Gegenteil. Künstlich
war der Mensch verfahren und hatte sich dadurch jede Möglichkeit
abgeschnitten, neues Wissen anzusammeln, so lange er mit Aristoteles
die Pflanzen nach dem wesenlosen abstrakten Prinzipe einer relativen
(angeblichen) "Vollkommenheit" sichtete, oder auch nach der lediglich
der menschlichen Praxis entnommenen Scheidung in Bäume, Sträucher,
Gräser und dergleichen mehr. Unsere heutigen Diagramme dagegen,
unsere imaginären Blüten, unsere ganzen pflanzensystematischen Grund-
sätze dienen dazu, wahre Verhältnisse der Natur, aus abertausend
treuen Beobachtungen nach und nach entnommen, dem menschlichen
Verstand nahe zu bringen und klar zu machen. Das Künstliche ist
bei uns ein bewusst Künstliches; es handelt sich wie bei der Mathe-
matik um "imaginäre Grössen", mit Hilfe derer wir aber der Natur-
wahrheit immer näher und näher kommen und ungezählte wirkliche
Thatsachen in unserem Geiste koordinieren; dies eben ist das Amt
der Wissenschaft. Dort dagegen, bei den Hellenen, war die Grund-
lage selbst eine durch und durch künstliche, anthropomorphistische,

Wissenschaft.

Dass ein mathematisches Verfahren auf andere Gegenstände,Das Wesen
unserer
Systematik.

namentlich auf die Beobachtungswissenschaften nicht unmittelbar über-
tragbar ist, versteht sich von selbst; ich halte es kaum für nötig, mich
oder Andere hier gegen ein derartiges Missverständnis in Schutz zu
nehmen. Weiss man aber, wie wir in der Mathematik vorgegangen
sind, so weiss man auch, wessen man sich bei uns anderwärts zu
gewärtigen hat, denn derselbe Geist wird, wenn nicht ähnlich, da der
Gegenstand dies unmöglich macht, doch analog verfahren. Unbe-
dingten Respekt vor der Natur (d. h. vor der Beobachtung) und kühne
Unbefangenheit in der Anwendung der Mittel, welche uns der Menschen-
geist zur Deutung und Bearbeitung an die Hand giebt: diese Prinzi-
pien finden wir überall wieder. Man besuche ein Kolleg über Pflanzen-
systematik: der Neophyt wird erstaunt sein, von Blumen reden zu
hören, die gar nicht existieren, und ihre »Diagramme« aufs schwarze
Brett zeichnen zu sehen; das sind sogenannte Typen, rein »imaginäre
Grössen«, durch deren Annahme die Struktur der wirklich vorhandenen
Blüten erläutert, sowie der Zusammenhang des in dem besonderen
Falle zu Grunde liegenden strukturellen (also eigentlich mechanischen)
Planes mit anderen verwandten oder abweichenden Plänen dargethan
wird. Das rein Menschliche an einem solchen Verfahren muss jedem
noch so wenig wissenschaftlich Gebildeten sofort auffallen. Doch man
glaube beileibe nicht, dass was hier vorgetragen wird, ein durchaus
künstliches, willkürliches System sei; ganz im Gegenteil. Künstlich
war der Mensch verfahren und hatte sich dadurch jede Möglichkeit
abgeschnitten, neues Wissen anzusammeln, so lange er mit Aristoteles
die Pflanzen nach dem wesenlosen abstrakten Prinzipe einer relativen
(angeblichen) »Vollkommenheit« sichtete, oder auch nach der lediglich
der menschlichen Praxis entnommenen Scheidung in Bäume, Sträucher,
Gräser und dergleichen mehr. Unsere heutigen Diagramme dagegen,
unsere imaginären Blüten, unsere ganzen pflanzensystematischen Grund-
sätze dienen dazu, wahre Verhältnisse der Natur, aus abertausend
treuen Beobachtungen nach und nach entnommen, dem menschlichen
Verstand nahe zu bringen und klar zu machen. Das Künstliche ist
bei uns ein bewusst Künstliches; es handelt sich wie bei der Mathe-
matik um »imaginäre Grössen«, mit Hilfe derer wir aber der Natur-
wahrheit immer näher und näher kommen und ungezählte wirkliche
Thatsachen in unserem Geiste koordinieren; dies eben ist das Amt
der Wissenschaft. Dort dagegen, bei den Hellenen, war die Grund-
lage selbst eine durch und durch künstliche, anthropomorphistische,

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[789/0268] Wissenschaft. Dass ein mathematisches Verfahren auf andere Gegenstände, namentlich auf die Beobachtungswissenschaften nicht unmittelbar über- tragbar ist, versteht sich von selbst; ich halte es kaum für nötig, mich oder Andere hier gegen ein derartiges Missverständnis in Schutz zu nehmen. Weiss man aber, wie wir in der Mathematik vorgegangen sind, so weiss man auch, wessen man sich bei uns anderwärts zu gewärtigen hat, denn derselbe Geist wird, wenn nicht ähnlich, da der Gegenstand dies unmöglich macht, doch analog verfahren. Unbe- dingten Respekt vor der Natur (d. h. vor der Beobachtung) und kühne Unbefangenheit in der Anwendung der Mittel, welche uns der Menschen- geist zur Deutung und Bearbeitung an die Hand giebt: diese Prinzi- pien finden wir überall wieder. Man besuche ein Kolleg über Pflanzen- systematik: der Neophyt wird erstaunt sein, von Blumen reden zu hören, die gar nicht existieren, und ihre »Diagramme« aufs schwarze Brett zeichnen zu sehen; das sind sogenannte Typen, rein »imaginäre Grössen«, durch deren Annahme die Struktur der wirklich vorhandenen Blüten erläutert, sowie der Zusammenhang des in dem besonderen Falle zu Grunde liegenden strukturellen (also eigentlich mechanischen) Planes mit anderen verwandten oder abweichenden Plänen dargethan wird. Das rein Menschliche an einem solchen Verfahren muss jedem noch so wenig wissenschaftlich Gebildeten sofort auffallen. Doch man glaube beileibe nicht, dass was hier vorgetragen wird, ein durchaus künstliches, willkürliches System sei; ganz im Gegenteil. Künstlich war der Mensch verfahren und hatte sich dadurch jede Möglichkeit abgeschnitten, neues Wissen anzusammeln, so lange er mit Aristoteles die Pflanzen nach dem wesenlosen abstrakten Prinzipe einer relativen (angeblichen) »Vollkommenheit« sichtete, oder auch nach der lediglich der menschlichen Praxis entnommenen Scheidung in Bäume, Sträucher, Gräser und dergleichen mehr. Unsere heutigen Diagramme dagegen, unsere imaginären Blüten, unsere ganzen pflanzensystematischen Grund- sätze dienen dazu, wahre Verhältnisse der Natur, aus abertausend treuen Beobachtungen nach und nach entnommen, dem menschlichen Verstand nahe zu bringen und klar zu machen. Das Künstliche ist bei uns ein bewusst Künstliches; es handelt sich wie bei der Mathe- matik um »imaginäre Grössen«, mit Hilfe derer wir aber der Natur- wahrheit immer näher und näher kommen und ungezählte wirkliche Thatsachen in unserem Geiste koordinieren; dies eben ist das Amt der Wissenschaft. Dort dagegen, bei den Hellenen, war die Grund- lage selbst eine durch und durch künstliche, anthropomorphistische, Das Wesen unserer Systematik.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 789. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/268>, abgerufen am 22.11.2024.