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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
diese Citate würdig zu schliessen, berufe ich mich noch auf Aristoteles,
dem man, was kritische Schärfe anbelangt, doch einige Kompetenz
zuerkennen wird. Es ist auffallend und wohlthuend zu sehen, dass
auch er in Homer's Blick das unterscheidende Kennzeichen entdeckt;
im 8. Kapitel seiner Poetik (er redet von den Eigenschaften einer
dichterischen Handlung) meint er: "Homer aber, wie er sich auch in
anderen Dingen unterscheidet, scheint auch hierin richtig gesehen
zu haben,
entweder durch Kunst, oder durch Natur." Ein tiefes
Wort! welches uns auf den überraschenden Begeisterungsschrei im
23. Kapitel der Poetik vorbereitet: Homer ist vor allen anderen
Dichtern göttlich.

Dies musste zunächst, und selbst um den Preis einiger Aus-Künstlerische
Kultur.

führlichkeit, festgestellt werden; nicht etwa weil es für den Gegen-
stand dieses Buches von Belang ist zu wissen, ob gerade ein Mann
Namens Homer die Ilias geschrieben hat, oder inwiefern die Dichtung,
welche heute unter diesem Titel bekannt ist, dem ursprünglichen
Gedicht entsprechen mag; nein, der spezielle Nachweis war Neben-
sache: wesentlich dagegen für mein ganzes Buch ist die Hervor-
hebung der unvergleichlichen Bedeutung der Persönlichkeit überhaupt;
wesentlich ebenfalls die Erkenntnis, dass jedes Werk der Kunst immer
und ausnahmslos eine stark individuelle Persönlichkeit voraussetzt, ein
grosses Kunstwerk eine Persönlichkeit allerersten Ranges, ein Genie;
wesentlich schliesslich die Einsicht, dass das Geheimnis der hellenischen
Zaubergewalt in dem Begriff "Persönlichkeit" eingeschlossen liegt.
Denn in der That, will man begreifen, was hellenische Kunst und
hellenisches Denken für unser Jahrhundert bedeutet haben, will man
das Geheimnis einer so zähen Lebenskraft begreifen, so muss man
vor allem sich klar machen, dass, was noch heute aus jener ver-
schwundenen Welt mit Jugendfrische weiterwirkt, die Macht grosser
Persönlichkeiten ist.

Höchstes Glück der Erdenkinder
Ist nur die Persönlichkeit,

sagt Goethe; dieses höchste Glück besassen die Griechen wie nie ein
Volk, und das gerade macht das Sonnige, Strahlende an ihrer Er-
scheinung aus. Ihre grossen Dichtungen, ihre grossen Gedanken sind
nicht das Werk anonymer Aktiengesellschaften, wie die sogenannte
Kunst und die sogenannte Weisheit der Ägypter, Assyrier, Chinesen

Hellenische Kunst und Philosophie.
diese Citate würdig zu schliessen, berufe ich mich noch auf Aristoteles,
dem man, was kritische Schärfe anbelangt, doch einige Kompetenz
zuerkennen wird. Es ist auffallend und wohlthuend zu sehen, dass
auch er in Homer’s Blick das unterscheidende Kennzeichen entdeckt;
im 8. Kapitel seiner Poetik (er redet von den Eigenschaften einer
dichterischen Handlung) meint er: »Homer aber, wie er sich auch in
anderen Dingen unterscheidet, scheint auch hierin richtig gesehen
zu haben,
entweder durch Kunst, oder durch Natur.« Ein tiefes
Wort! welches uns auf den überraschenden Begeisterungsschrei im
23. Kapitel der Poetik vorbereitet: Homer ist vor allen anderen
Dichtern göttlich.

Dies musste zunächst, und selbst um den Preis einiger Aus-Künstlerische
Kultur.

führlichkeit, festgestellt werden; nicht etwa weil es für den Gegen-
stand dieses Buches von Belang ist zu wissen, ob gerade ein Mann
Namens Homer die Ilias geschrieben hat, oder inwiefern die Dichtung,
welche heute unter diesem Titel bekannt ist, dem ursprünglichen
Gedicht entsprechen mag; nein, der spezielle Nachweis war Neben-
sache: wesentlich dagegen für mein ganzes Buch ist die Hervor-
hebung der unvergleichlichen Bedeutung der Persönlichkeit überhaupt;
wesentlich ebenfalls die Erkenntnis, dass jedes Werk der Kunst immer
und ausnahmslos eine stark individuelle Persönlichkeit voraussetzt, ein
grosses Kunstwerk eine Persönlichkeit allerersten Ranges, ein Genie;
wesentlich schliesslich die Einsicht, dass das Geheimnis der hellenischen
Zaubergewalt in dem Begriff »Persönlichkeit« eingeschlossen liegt.
Denn in der That, will man begreifen, was hellenische Kunst und
hellenisches Denken für unser Jahrhundert bedeutet haben, will man
das Geheimnis einer so zähen Lebenskraft begreifen, so muss man
vor allem sich klar machen, dass, was noch heute aus jener ver-
schwundenen Welt mit Jugendfrische weiterwirkt, die Macht grosser
Persönlichkeiten ist.

Höchstes Glück der Erdenkinder
Ist nur die Persönlichkeit,

sagt Goethe; dieses höchste Glück besassen die Griechen wie nie ein
Volk, und das gerade macht das Sonnige, Strahlende an ihrer Er-
scheinung aus. Ihre grossen Dichtungen, ihre grossen Gedanken sind
nicht das Werk anonymer Aktiengesellschaften, wie die sogenannte
Kunst und die sogenannte Weisheit der Ägypter, Assyrier, Chinesen

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[69/0092] Hellenische Kunst und Philosophie. diese Citate würdig zu schliessen, berufe ich mich noch auf Aristoteles, dem man, was kritische Schärfe anbelangt, doch einige Kompetenz zuerkennen wird. Es ist auffallend und wohlthuend zu sehen, dass auch er in Homer’s Blick das unterscheidende Kennzeichen entdeckt; im 8. Kapitel seiner Poetik (er redet von den Eigenschaften einer dichterischen Handlung) meint er: »Homer aber, wie er sich auch in anderen Dingen unterscheidet, scheint auch hierin richtig gesehen zu haben, entweder durch Kunst, oder durch Natur.« Ein tiefes Wort! welches uns auf den überraschenden Begeisterungsschrei im 23. Kapitel der Poetik vorbereitet: Homer ist vor allen anderen Dichtern göttlich. Dies musste zunächst, und selbst um den Preis einiger Aus- führlichkeit, festgestellt werden; nicht etwa weil es für den Gegen- stand dieses Buches von Belang ist zu wissen, ob gerade ein Mann Namens Homer die Ilias geschrieben hat, oder inwiefern die Dichtung, welche heute unter diesem Titel bekannt ist, dem ursprünglichen Gedicht entsprechen mag; nein, der spezielle Nachweis war Neben- sache: wesentlich dagegen für mein ganzes Buch ist die Hervor- hebung der unvergleichlichen Bedeutung der Persönlichkeit überhaupt; wesentlich ebenfalls die Erkenntnis, dass jedes Werk der Kunst immer und ausnahmslos eine stark individuelle Persönlichkeit voraussetzt, ein grosses Kunstwerk eine Persönlichkeit allerersten Ranges, ein Genie; wesentlich schliesslich die Einsicht, dass das Geheimnis der hellenischen Zaubergewalt in dem Begriff »Persönlichkeit« eingeschlossen liegt. Denn in der That, will man begreifen, was hellenische Kunst und hellenisches Denken für unser Jahrhundert bedeutet haben, will man das Geheimnis einer so zähen Lebenskraft begreifen, so muss man vor allem sich klar machen, dass, was noch heute aus jener ver- schwundenen Welt mit Jugendfrische weiterwirkt, die Macht grosser Persönlichkeiten ist. Künstlerische Kultur. Höchstes Glück der Erdenkinder Ist nur die Persönlichkeit, sagt Goethe; dieses höchste Glück besassen die Griechen wie nie ein Volk, und das gerade macht das Sonnige, Strahlende an ihrer Er- scheinung aus. Ihre grossen Dichtungen, ihre grossen Gedanken sind nicht das Werk anonymer Aktiengesellschaften, wie die sogenannte Kunst und die sogenannte Weisheit der Ägypter, Assyrier, Chinesen

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/92>, abgerufen am 24.11.2024.