wiesen;1) und ebenfalls erwiesen ist es, dass die religiösen Vorstellungen der Griechen aus sehr verschiedenen Quellen gespeist worden sind; den Grundstock bildet die indoeuropäische Erbschaft, dazu kommen aber allerhand bunte, orientalische Einflüsse (wie Herodot das ebenfalls in dem Abschnitt, der dem angeführten vorausgeht, schon dargelegt hatte): in dies Wirrnis greift nun der eine unvergleichliche Mann mit der souveränen Machtvollkommenheit des freischöpferischen, dichterischen Genies und gestaltet daraus auf künstlerischem Wege eine neue Welt; wie Herodot sagt: er schafft den Griechen ihr Göttergeschlecht.
Man gestatte mir, hier die Worte eines der anerkannt gelehrtesten unter den lebenden Hellenisten, Erwin Rohde's,2) anzuführen: "Volks- dichtung ist das Homerische Epos nur darum zu nennen, weil es so geartet ist, dass das Volk, das gesamte Volk griechischer Zunge es willig aufnahm und in sein Eigentum verwandeln konnte, nicht weil in irgend einer mystischen Weise das ,Volk' bei seiner Hervor- bringung beteiligt gewesen wäre. Viele Hände sind an den beiden Gedichten thätig gewesen, alle aber in der Richtung und in dem Sinne, die ihnen nicht das ,Volk' oder die ,Sage', wie man wohl versichern hört, sondern die Gewalt des grössten Dichtergenius der Griechen und wohl der Menschheit angab. -- -- -- In Homer's Spiegel scheint Griechenland einig und einheitlich im Götter- glauben, wie im Dialekt, in Verfassungszuständen, in Sitte und Sitt- lichkeit. In Wirklichkeit kann -- das darf man kühn behaupten -- diese Einheit nicht vorhanden gewesen sein; die Grundzüge des panhellenischen Wesens waren zweifellos vorhanden, aber gesammelt und verschmolzen zu einem nur vorgestellten Ganzen hat sie einzig der Genius des Dichters." (Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, S. 35, 36). Bergk, dessen ganzes reiches Gelehrten- leben dem Studium der griechischen Poesie gewidmet war, urteilt: "Homer schöpft wesentlich aus sich selbst, aus dem eigenen Inneren; er ist ein wahrhaft originaler Geist, nicht Nachahmer, und er übt seine Kunst mit vollem Bewusstsein" (a. a. O., S. 527). Auch Duncker, der Historiker, bemerkt, dass, was den Nachfolgern Homer's fehlte -- was diesen Einzigen also auszeichnete -- "der zusammenschauende Blick des Genius" war (Gesch. des Altertums, V, 566). Und um
1) Siehe namentlich Flach: Geschichte der griechischen Lyrik nach den Quellen dargestellt, I. S. 45 ff., 90 ff.
2) Inzwischen hat die deutsche Wissenschaft den Tod des ausserordent- lichen Mannes zu beklagen gehabt.
Das Erbe der alten Welt.
wiesen;1) und ebenfalls erwiesen ist es, dass die religiösen Vorstellungen der Griechen aus sehr verschiedenen Quellen gespeist worden sind; den Grundstock bildet die indoeuropäische Erbschaft, dazu kommen aber allerhand bunte, orientalische Einflüsse (wie Herodot das ebenfalls in dem Abschnitt, der dem angeführten vorausgeht, schon dargelegt hatte): in dies Wirrnis greift nun der eine unvergleichliche Mann mit der souveränen Machtvollkommenheit des freischöpferischen, dichterischen Genies und gestaltet daraus auf künstlerischem Wege eine neue Welt; wie Herodot sagt: er schafft den Griechen ihr Göttergeschlecht.
Man gestatte mir, hier die Worte eines der anerkannt gelehrtesten unter den lebenden Hellenisten, Erwin Rohde’s,2) anzuführen: »Volks- dichtung ist das Homerische Epos nur darum zu nennen, weil es so geartet ist, dass das Volk, das gesamte Volk griechischer Zunge es willig aufnahm und in sein Eigentum verwandeln konnte, nicht weil in irgend einer mystischen Weise das ‚Volk‛ bei seiner Hervor- bringung beteiligt gewesen wäre. Viele Hände sind an den beiden Gedichten thätig gewesen, alle aber in der Richtung und in dem Sinne, die ihnen nicht das ‚Volk‛ oder die ‚Sage‛, wie man wohl versichern hört, sondern die Gewalt des grössten Dichtergenius der Griechen und wohl der Menschheit angab. — — — In Homer’s Spiegel scheint Griechenland einig und einheitlich im Götter- glauben, wie im Dialekt, in Verfassungszuständen, in Sitte und Sitt- lichkeit. In Wirklichkeit kann — das darf man kühn behaupten — diese Einheit nicht vorhanden gewesen sein; die Grundzüge des panhellenischen Wesens waren zweifellos vorhanden, aber gesammelt und verschmolzen zu einem nur vorgestellten Ganzen hat sie einzig der Genius des Dichters.« (Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, S. 35, 36). Bergk, dessen ganzes reiches Gelehrten- leben dem Studium der griechischen Poesie gewidmet war, urteilt: »Homer schöpft wesentlich aus sich selbst, aus dem eigenen Inneren; er ist ein wahrhaft originaler Geist, nicht Nachahmer, und er übt seine Kunst mit vollem Bewusstsein« (a. a. O., S. 527). Auch Duncker, der Historiker, bemerkt, dass, was den Nachfolgern Homer’s fehlte — was diesen Einzigen also auszeichnete — »der zusammenschauende Blick des Genius« war (Gesch. des Altertums, V, 566). Und um
1) Siehe namentlich Flach: Geschichte der griechischen Lyrik nach den Quellen dargestellt, I. S. 45 ff., 90 ff.
2) Inzwischen hat die deutsche Wissenschaft den Tod des ausserordent- lichen Mannes zu beklagen gehabt.
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den Grundstock bildet die indoeuropäische Erbschaft, dazu kommen aber
allerhand bunte, orientalische Einflüsse (wie Herodot das ebenfalls in dem
Abschnitt, der dem angeführten vorausgeht, schon dargelegt hatte): in dies
Wirrnis greift nun der eine unvergleichliche Mann mit der souveränen
Machtvollkommenheit des freischöpferischen, dichterischen Genies und
gestaltet daraus auf künstlerischem Wege eine neue Welt; wie Herodot
sagt: er schafft den Griechen ihr Göttergeschlecht.
Man gestatte mir, hier die Worte eines der anerkannt gelehrtesten
unter den lebenden Hellenisten, Erwin Rohde’s, 2) anzuführen: »Volks-
dichtung ist das Homerische Epos nur darum zu nennen, weil es so
geartet ist, dass das Volk, das gesamte Volk griechischer Zunge es
willig aufnahm und in sein Eigentum verwandeln konnte, nicht weil
in irgend einer mystischen Weise das ‚Volk‛ bei seiner Hervor-
bringung beteiligt gewesen wäre. Viele Hände sind an den beiden
Gedichten thätig gewesen, alle aber in der Richtung und in dem
Sinne, die ihnen nicht das ‚Volk‛ oder die ‚Sage‛, wie man wohl
versichern hört, sondern die Gewalt des grössten Dichtergenius
der Griechen und wohl der Menschheit angab. — — — In
Homer’s Spiegel scheint Griechenland einig und einheitlich im Götter-
glauben, wie im Dialekt, in Verfassungszuständen, in Sitte und Sitt-
lichkeit. In Wirklichkeit kann — das darf man kühn behaupten —
diese Einheit nicht vorhanden gewesen sein; die Grundzüge des
panhellenischen Wesens waren zweifellos vorhanden, aber gesammelt
und verschmolzen zu einem nur vorgestellten Ganzen hat sie einzig
der Genius des Dichters.« (Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube
der Griechen, S. 35, 36). Bergk, dessen ganzes reiches Gelehrten-
leben dem Studium der griechischen Poesie gewidmet war, urteilt:
»Homer schöpft wesentlich aus sich selbst, aus dem eigenen Inneren;
er ist ein wahrhaft originaler Geist, nicht Nachahmer, und er übt
seine Kunst mit vollem Bewusstsein« (a. a. O., S. 527). Auch Duncker,
der Historiker, bemerkt, dass, was den Nachfolgern Homer’s fehlte —
was diesen Einzigen also auszeichnete — »der zusammenschauende
Blick des Genius« war (Gesch. des Altertums, V, 566). Und um
1) Siehe namentlich Flach: Geschichte der griechischen Lyrik nach den
Quellen dargestellt, I. S. 45 ff., 90 ff.
2) Inzwischen hat die deutsche Wissenschaft den Tod des ausserordent-
lichen Mannes zu beklagen gehabt.
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/91>, abgerufen am 24.07.2024.
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