e tutti quanti; das Heldentum ist das Lebensprinzip dieses Volkes; der einzelne Mann tritt einzeln hervor, kühn überschreitet er den Bann- kreis des allen Gemeinsamen, der instinktiv, unbewusst, nutzlos sich accumulierenden Civilisation, furchtlos haut er sich eine Lichtung in dem immer dunkler werdenden Urwald der gehäuften Superstitionen: -- er wagt es, Genie zu haben! Und aus diesem Wagestück entsteht ein neuer Begriff des Menschlichen; jetzt erst ist der Mensch "in das Tageslicht des Lebens eingetreten".
Der Vereinzelte vermöchte das jedoch nicht. Persönlichkeiten können nur in einer Umgebung von Persönlichkeiten sich als solche bemerkbar machen; Aktion gewinnt erst durch Reaktion ein bewusstes Dasein; das Genie kann einzig in einer Atmosphäre der "Genialität" atmen. Haben wir uns also unzweifelhaft eine einzige, überragend grosse, unvergleichlich schöpferische Persönlichkeit als das bestimmende und durchaus unerlässliche primum mobile der gesamten griechischen Kultur zu denken, so müssen wir als das zweite charakteristische Moment dieser Kultur die Thatsache erkennen, dass die Umgebung sich einer so ausserordentlichen Persönlichkeit würdig erwies. Das Bleibende am Hellenentum, dasjenige, was es noch heute am Leben erhält und dazu befähigte, so vielen der Besten in unserem Jahr- hundert ein leuchtendes Ideal zu sein, ein Trost und eine Hoffnung, das kann man in einem einzigen Wort zusammenfassen: es ist seine Genialität. Was hätte ein Homer in Ägypten oder in Phönizien gefrommt? Die einen hätten ihn unbeachtet gelassen, die anderen ihn gekreuzigt; ja, selbst in Rom -- -- -- hier haben wir übrigens den Experimentalbeweis vor Augen. Ist es denn der gesamten griechischen Dichtkunst gelungen, auch nur einen einzigen Funken aus diesen nüchternen, unkünstlerischen Herzen zu schlagen? Giebt es unter den Römern ein einziges wahres Dichtergenie? Ist es nicht ein Jammer, dass unsere Schulmeister sich verpflichtet fühlen, unsere frischen Kinderjahre durch die obligate Bewunderung dieser rhetorischen, gedrechselten, seelenlosen, erlogenen Nachahmungen echter Poesie zu vergällen? Und -- denn auf ein paar Dichter mehr oder weniger kommt es wahrlich nicht an -- merkt man nicht an diesem einen Beispiel, wie die gesamte Kultur mit der Kunst zusammenhängt? Was sagt man zu einer Geschichte, die mehr als 1200 Jahre umfasst und nicht einen einzigen Philosophen aufweist, ja, nicht einmal das kleinste Philosöphchen? zu einem Volk, das seine in dieser Beziehung wahrhaftig bescheidenen Ansprüche durch den Import der letzten
Das Erbe der alten Welt.
e tutti quanti; das Heldentum ist das Lebensprinzip dieses Volkes; der einzelne Mann tritt einzeln hervor, kühn überschreitet er den Bann- kreis des allen Gemeinsamen, der instinktiv, unbewusst, nutzlos sich accumulierenden Civilisation, furchtlos haut er sich eine Lichtung in dem immer dunkler werdenden Urwald der gehäuften Superstitionen: — er wagt es, Genie zu haben! Und aus diesem Wagestück entsteht ein neuer Begriff des Menschlichen; jetzt erst ist der Mensch »in das Tageslicht des Lebens eingetreten«.
Der Vereinzelte vermöchte das jedoch nicht. Persönlichkeiten können nur in einer Umgebung von Persönlichkeiten sich als solche bemerkbar machen; Aktion gewinnt erst durch Reaktion ein bewusstes Dasein; das Genie kann einzig in einer Atmosphäre der »Genialität« atmen. Haben wir uns also unzweifelhaft eine einzige, überragend grosse, unvergleichlich schöpferische Persönlichkeit als das bestimmende und durchaus unerlässliche primum mobile der gesamten griechischen Kultur zu denken, so müssen wir als das zweite charakteristische Moment dieser Kultur die Thatsache erkennen, dass die Umgebung sich einer so ausserordentlichen Persönlichkeit würdig erwies. Das Bleibende am Hellenentum, dasjenige, was es noch heute am Leben erhält und dazu befähigte, so vielen der Besten in unserem Jahr- hundert ein leuchtendes Ideal zu sein, ein Trost und eine Hoffnung, das kann man in einem einzigen Wort zusammenfassen: es ist seine Genialität. Was hätte ein Homer in Ägypten oder in Phönizien gefrommt? Die einen hätten ihn unbeachtet gelassen, die anderen ihn gekreuzigt; ja, selbst in Rom — — — hier haben wir übrigens den Experimentalbeweis vor Augen. Ist es denn der gesamten griechischen Dichtkunst gelungen, auch nur einen einzigen Funken aus diesen nüchternen, unkünstlerischen Herzen zu schlagen? Giebt es unter den Römern ein einziges wahres Dichtergenie? Ist es nicht ein Jammer, dass unsere Schulmeister sich verpflichtet fühlen, unsere frischen Kinderjahre durch die obligate Bewunderung dieser rhetorischen, gedrechselten, seelenlosen, erlogenen Nachahmungen echter Poesie zu vergällen? Und — denn auf ein paar Dichter mehr oder weniger kommt es wahrlich nicht an — merkt man nicht an diesem einen Beispiel, wie die gesamte Kultur mit der Kunst zusammenhängt? Was sagt man zu einer Geschichte, die mehr als 1200 Jahre umfasst und nicht einen einzigen Philosophen aufweist, ja, nicht einmal das kleinste Philosöphchen? zu einem Volk, das seine in dieser Beziehung wahrhaftig bescheidenen Ansprüche durch den Import der letzten
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Das Erbe der alten Welt.
e tutti quanti; das Heldentum ist das Lebensprinzip dieses Volkes; der
einzelne Mann tritt einzeln hervor, kühn überschreitet er den Bann-
kreis des allen Gemeinsamen, der instinktiv, unbewusst, nutzlos sich
accumulierenden Civilisation, furchtlos haut er sich eine Lichtung in
dem immer dunkler werdenden Urwald der gehäuften Superstitionen:
— er wagt es, Genie zu haben! Und aus diesem Wagestück entsteht
ein neuer Begriff des Menschlichen; jetzt erst ist der Mensch »in das
Tageslicht des Lebens eingetreten«.
Der Vereinzelte vermöchte das jedoch nicht. Persönlichkeiten
können nur in einer Umgebung von Persönlichkeiten sich als solche
bemerkbar machen; Aktion gewinnt erst durch Reaktion ein bewusstes
Dasein; das Genie kann einzig in einer Atmosphäre der »Genialität«
atmen. Haben wir uns also unzweifelhaft eine einzige, überragend
grosse, unvergleichlich schöpferische Persönlichkeit als das bestimmende
und durchaus unerlässliche primum mobile der gesamten griechischen
Kultur zu denken, so müssen wir als das zweite charakteristische
Moment dieser Kultur die Thatsache erkennen, dass die Umgebung
sich einer so ausserordentlichen Persönlichkeit würdig erwies. Das
Bleibende am Hellenentum, dasjenige, was es noch heute am Leben
erhält und dazu befähigte, so vielen der Besten in unserem Jahr-
hundert ein leuchtendes Ideal zu sein, ein Trost und eine Hoffnung,
das kann man in einem einzigen Wort zusammenfassen: es ist seine
Genialität. Was hätte ein Homer in Ägypten oder in Phönizien
gefrommt? Die einen hätten ihn unbeachtet gelassen, die anderen
ihn gekreuzigt; ja, selbst in Rom — — — hier haben wir übrigens
den Experimentalbeweis vor Augen. Ist es denn der gesamten
griechischen Dichtkunst gelungen, auch nur einen einzigen Funken
aus diesen nüchternen, unkünstlerischen Herzen zu schlagen? Giebt
es unter den Römern ein einziges wahres Dichtergenie? Ist es nicht
ein Jammer, dass unsere Schulmeister sich verpflichtet fühlen, unsere
frischen Kinderjahre durch die obligate Bewunderung dieser rhetorischen,
gedrechselten, seelenlosen, erlogenen Nachahmungen echter Poesie
zu vergällen? Und — denn auf ein paar Dichter mehr oder weniger
kommt es wahrlich nicht an — merkt man nicht an diesem einen
Beispiel, wie die gesamte Kultur mit der Kunst zusammenhängt?
Was sagt man zu einer Geschichte, die mehr als 1200 Jahre umfasst
und nicht einen einzigen Philosophen aufweist, ja, nicht einmal das
kleinste Philosöphchen? zu einem Volk, das seine in dieser Beziehung
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/93>, abgerufen am 24.11.2024.
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