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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
werden. Während wahre Askese nur wenigen Auserwählten möglich
ist, da hier der moralische Entschluss offenbar zu Grunde liegen und
fortwährend die Zügel führen muss, wird für diese sogenannten "geist-
lichen Übungen" Loyola's, die nie mehr als vier Wochen dauern
dürfen (ausserdem aber nach der Anlage eines jeden Einzelnen vom
Lehrer gekürzt und eingerichtet werden sollen) fast jeder Mensch,
namentlich in jüngeren Jahren, ein eindrucksfähiges Subjekt abgeben.
Die Suggestionskraft einer solchen krass mechanischen, mit unendlicher
Kunst auf das Aufwühlen des ganzen Menschen angelegten Methode ist
so gross, dass Niemand sich ihr ganz zu entziehen vermag. Auch ich
fühle meine Sinne erzittern, wenn ich in diese Exercitien mich versenke;
doch ist es nicht das anatomisch herausgeschnittene Herz Jesu, das ich
erblicke (als ob der "Herz" genannte Muskelapparat mit göttlicher Liebe
etwas gemeinsam hätte!), sondern ich sehe den Ursus spelaeus beutegierig
lauern; und wenn Loyola von der Furcht vor Gott spricht und lehrt,
nicht die "kindliche Furcht" dürfe uns genügen, sondern wir müssten
erzittern "in jener anderen Furcht, genannt timor servilis", d. h. in
der schlotternden Angst hilfloser Sklaven,1) da höre ich auch jenen
gewaltigen Höhlenbären brüllen und fühle es nach, wie die armen,
nackten, wehrlosen Menschen der Diluvialzeit, Tag und Nacht von Ge-
fahr umgeben, bei dieser Stimme erzitterten. Die gesamte geistige Ver-
fassung dieses Basken deutet auf ferne Jahrtausende zurück; von der
geistigen Kulturarbeit der Menschheit hat er sich einiges Äusserliche
als Material angeeignet, doch das innere Wachsen und Erstarken, jene
grosse Emanzipation des Menschen von der Furcht, jenes allmähliche
Abstreifen der Sinnestyrannei (die früher eine Existenzbedingung war
und jede andere Anlage in ihrer Entwickelung hintanhielt), jener "Ein-
tritt des Menschen in das Tageslicht des Lebens" mit dem Erwachen
seiner freischöpferischen Kraft, jene Richtung auf Ideale, die man nicht
erst riecht und schmeckt, um an sie zu glauben, sondern die man

1) Regulae ad sentiendum cum ecclesia, Nr. 18. Höchst bemerkenswert in Bezug
auf diese Grundlehre des Ignatius (und alles Jesuitismus), ist die Thatsache, dass
der Kirchenvater Augustinus gerade die timor servilis für einen Beweis dafür hält,
dass ein Mensch Gott nicht kenne! Von solchen Leuten sagt er: "sie fürchten
Gott mit jener knechtischen Furcht, welche die Abwesenheit von Liebe beweist,
denn vollkommene Liebe kennt keine Furcht", quoniam timent quidem Deum, sed
illo timore servili, qui non est in charitate, quia perfecta charitas foras mittit timorem
(De civitate Dei
XXI, 24). Was jedem Germanen in dieser Beziehung heiliges
Gesetz sein sollte, hat Goethe in den Wanderjahren (Buch II, Kap. 1) klar aus-
gesprochen: "Keine Religion, die sich auf Furcht gründet, wird unter uns geachtet".

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
werden. Während wahre Askese nur wenigen Auserwählten möglich
ist, da hier der moralische Entschluss offenbar zu Grunde liegen und
fortwährend die Zügel führen muss, wird für diese sogenannten »geist-
lichen Übungen« Loyola’s, die nie mehr als vier Wochen dauern
dürfen (ausserdem aber nach der Anlage eines jeden Einzelnen vom
Lehrer gekürzt und eingerichtet werden sollen) fast jeder Mensch,
namentlich in jüngeren Jahren, ein eindrucksfähiges Subjekt abgeben.
Die Suggestionskraft einer solchen krass mechanischen, mit unendlicher
Kunst auf das Aufwühlen des ganzen Menschen angelegten Methode ist
so gross, dass Niemand sich ihr ganz zu entziehen vermag. Auch ich
fühle meine Sinne erzittern, wenn ich in diese Exercitien mich versenke;
doch ist es nicht das anatomisch herausgeschnittene Herz Jesu, das ich
erblicke (als ob der »Herz« genannte Muskelapparat mit göttlicher Liebe
etwas gemeinsam hätte!), sondern ich sehe den Ursus spelaeus beutegierig
lauern; und wenn Loyola von der Furcht vor Gott spricht und lehrt,
nicht die »kindliche Furcht« dürfe uns genügen, sondern wir müssten
erzittern »in jener anderen Furcht, genannt timor servilis«, d. h. in
der schlotternden Angst hilfloser Sklaven,1) da höre ich auch jenen
gewaltigen Höhlenbären brüllen und fühle es nach, wie die armen,
nackten, wehrlosen Menschen der Diluvialzeit, Tag und Nacht von Ge-
fahr umgeben, bei dieser Stimme erzitterten. Die gesamte geistige Ver-
fassung dieses Basken deutet auf ferne Jahrtausende zurück; von der
geistigen Kulturarbeit der Menschheit hat er sich einiges Äusserliche
als Material angeeignet, doch das innere Wachsen und Erstarken, jene
grosse Emanzipation des Menschen von der Furcht, jenes allmähliche
Abstreifen der Sinnestyrannei (die früher eine Existenzbedingung war
und jede andere Anlage in ihrer Entwickelung hintanhielt), jener »Ein-
tritt des Menschen in das Tageslicht des Lebens« mit dem Erwachen
seiner freischöpferischen Kraft, jene Richtung auf Ideale, die man nicht
erst riecht und schmeckt, um an sie zu glauben, sondern die man

1) Regulae ad sentiendum cum ecclesia, Nr. 18. Höchst bemerkenswert in Bezug
auf diese Grundlehre des Ignatius (und alles Jesuitismus), ist die Thatsache, dass
der Kirchenvater Augustinus gerade die timor servilis für einen Beweis dafür hält,
dass ein Mensch Gott nicht kenne! Von solchen Leuten sagt er: »sie fürchten
Gott mit jener knechtischen Furcht, welche die Abwesenheit von Liebe beweist,
denn vollkommene Liebe kennt keine Furcht«, quoniam timent quidem Deum, sed
illo timore servili, qui non est in charitate, quia perfecta charitas foras mittit timorem
(De civitate Dei
XXI, 24). Was jedem Germanen in dieser Beziehung heiliges
Gesetz sein sollte, hat Goethe in den Wanderjahren (Buch II, Kap. 1) klar aus-
gesprochen: »Keine Religion, die sich auf Furcht gründet, wird unter uns geachtet«.
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[525/0548] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. werden. Während wahre Askese nur wenigen Auserwählten möglich ist, da hier der moralische Entschluss offenbar zu Grunde liegen und fortwährend die Zügel führen muss, wird für diese sogenannten »geist- lichen Übungen« Loyola’s, die nie mehr als vier Wochen dauern dürfen (ausserdem aber nach der Anlage eines jeden Einzelnen vom Lehrer gekürzt und eingerichtet werden sollen) fast jeder Mensch, namentlich in jüngeren Jahren, ein eindrucksfähiges Subjekt abgeben. Die Suggestionskraft einer solchen krass mechanischen, mit unendlicher Kunst auf das Aufwühlen des ganzen Menschen angelegten Methode ist so gross, dass Niemand sich ihr ganz zu entziehen vermag. Auch ich fühle meine Sinne erzittern, wenn ich in diese Exercitien mich versenke; doch ist es nicht das anatomisch herausgeschnittene Herz Jesu, das ich erblicke (als ob der »Herz« genannte Muskelapparat mit göttlicher Liebe etwas gemeinsam hätte!), sondern ich sehe den Ursus spelaeus beutegierig lauern; und wenn Loyola von der Furcht vor Gott spricht und lehrt, nicht die »kindliche Furcht« dürfe uns genügen, sondern wir müssten erzittern »in jener anderen Furcht, genannt timor servilis«, d. h. in der schlotternden Angst hilfloser Sklaven, 1) da höre ich auch jenen gewaltigen Höhlenbären brüllen und fühle es nach, wie die armen, nackten, wehrlosen Menschen der Diluvialzeit, Tag und Nacht von Ge- fahr umgeben, bei dieser Stimme erzitterten. Die gesamte geistige Ver- fassung dieses Basken deutet auf ferne Jahrtausende zurück; von der geistigen Kulturarbeit der Menschheit hat er sich einiges Äusserliche als Material angeeignet, doch das innere Wachsen und Erstarken, jene grosse Emanzipation des Menschen von der Furcht, jenes allmähliche Abstreifen der Sinnestyrannei (die früher eine Existenzbedingung war und jede andere Anlage in ihrer Entwickelung hintanhielt), jener »Ein- tritt des Menschen in das Tageslicht des Lebens« mit dem Erwachen seiner freischöpferischen Kraft, jene Richtung auf Ideale, die man nicht erst riecht und schmeckt, um an sie zu glauben, sondern die man 1) Regulae ad sentiendum cum ecclesia, Nr. 18. Höchst bemerkenswert in Bezug auf diese Grundlehre des Ignatius (und alles Jesuitismus), ist die Thatsache, dass der Kirchenvater Augustinus gerade die timor servilis für einen Beweis dafür hält, dass ein Mensch Gott nicht kenne! Von solchen Leuten sagt er: »sie fürchten Gott mit jener knechtischen Furcht, welche die Abwesenheit von Liebe beweist, denn vollkommene Liebe kennt keine Furcht«, quoniam timent quidem Deum, sed illo timore servili, qui non est in charitate, quia perfecta charitas foras mittit timorem (De civitate Dei XXI, 24). Was jedem Germanen in dieser Beziehung heiliges Gesetz sein sollte, hat Goethe in den Wanderjahren (Buch II, Kap. 1) klar aus- gesprochen: »Keine Religion, die sich auf Furcht gründet, wird unter uns geachtet«.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 525. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/548>, abgerufen am 23.11.2024.