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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
Wiederholungen wird er immer von Neuem gestärkt), der genau so
wirkt wie jede andere Hysterie. Die neuere Medizin fasst diese psycho-
pathologischen Zustände unter der Bezeichnung "Zwangsneurose" zu-
sammen und weiss recht wohl, dass der Erkrankte nicht seinen Willen,
wohl aber (innerhalb des Kreises der Zwangsvorstellungen) die freie
Verfügung
über seinen Willen gänzlich verliert! Natürlich kann
ich hier nicht näher auf diesen höchst verwickelten Gegenstand ein-
gehen, der gerade in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts durch
die Experimente Charcot's und Anderer, sowie durch die wissen-
schaftliche Psychologie teilweise aufgehellt wurde, so weit wenigstens
aufgehellt, dass man das Problem jetzt klar erfasst und die entsetzliche
Macht der Physis über die Psyche deutlich erkennt;1) es genügt, wenn
ich die Vernichtung der physischen Grundlage der Freiheit als
Loyola's erstes Ziel nachgewiesen habe. Dieser direkte Angriff auf
den Leib des Menschen, nicht etwa, um den Leib dem Geist zu unter-
werfen, sondern im Gegenteil, um durch Vermittlung des Leibes den
Geist zu ergreifen und zu bemeistern, zeigt eine Gesinnung, die Allem,
was wir Indoeuropäer jemals Religion genannt haben, widerspricht.
Denn mit Askese hat Loyola's System nichts gemein; im Gegenteil,
er perhorresciert die Askese und verbietet sie, und zwar von seinem
Standpunkte aus mit Recht: denn die Askese steigert die intellektuellen
Fähigkeiten und gipfelt, wenn mit eiserner Konsequenz durchgeführt, in
der vollen Bewältigung der Sinne; diese mögen dann immerhin weiter,
gleichsam als Material für die Phantasie, der mystischen Andacht
einer heiligen Theresa oder der mystischen Metaphysik eines Chandogya
dienen, fortan sind es dem Willen dienstbar gemachte, durch die Gewalt
des Gemütes gehobene und geläuterte Sinne, was der indische Religions-
lehrer auszudrücken sucht, indem er schreibt: "der Wissende ist schon
bei Lebzeiten körperlos".2) Wogegen, wie gesagt, Loyola's Methode
geradezu eine Gymnastik der Sinnlichkeit vorschreibt, durch welche,
wie er es selber als Ziel bezeichnet, der Wille und das Urteil geknechtet

1) Zu den interessantesten Zusammenfassungen aus letzterer Zeit gehören
die Aufsätze des Dr. Siegmund Freud: Über die Ätiologie der Hysterie und Die
Sexualität in der Ätiologie der Neurosen,
in den Jahrgängen 1896 und 1898 der
Wiener klinischen Rundschau. Nach meiner Überzeugung bedeutet jeder starke
Anreiz der äusseren Sinnenthätigkeit aus rein innerer Erregung, auch wo er nicht
in sexueller Gestalt auftritt, eine Exacerbation des Sinnenlebens, dessen Sitz im
Gehirn ist, und bedingt eine entsprechende Lähmung.
2) Cankara: Die Sautra's des Vedanta, I, 1, 4.

Die Erben.
Wiederholungen wird er immer von Neuem gestärkt), der genau so
wirkt wie jede andere Hysterie. Die neuere Medizin fasst diese psycho-
pathologischen Zustände unter der Bezeichnung »Zwangsneurose« zu-
sammen und weiss recht wohl, dass der Erkrankte nicht seinen Willen,
wohl aber (innerhalb des Kreises der Zwangsvorstellungen) die freie
Verfügung
über seinen Willen gänzlich verliert! Natürlich kann
ich hier nicht näher auf diesen höchst verwickelten Gegenstand ein-
gehen, der gerade in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts durch
die Experimente Charcot’s und Anderer, sowie durch die wissen-
schaftliche Psychologie teilweise aufgehellt wurde, so weit wenigstens
aufgehellt, dass man das Problem jetzt klar erfasst und die entsetzliche
Macht der Physis über die Psyche deutlich erkennt;1) es genügt, wenn
ich die Vernichtung der physischen Grundlage der Freiheit als
Loyola’s erstes Ziel nachgewiesen habe. Dieser direkte Angriff auf
den Leib des Menschen, nicht etwa, um den Leib dem Geist zu unter-
werfen, sondern im Gegenteil, um durch Vermittlung des Leibes den
Geist zu ergreifen und zu bemeistern, zeigt eine Gesinnung, die Allem,
was wir Indoeuropäer jemals Religion genannt haben, widerspricht.
Denn mit Askese hat Loyola’s System nichts gemein; im Gegenteil,
er perhorresciert die Askese und verbietet sie, und zwar von seinem
Standpunkte aus mit Recht: denn die Askese steigert die intellektuellen
Fähigkeiten und gipfelt, wenn mit eiserner Konsequenz durchgeführt, in
der vollen Bewältigung der Sinne; diese mögen dann immerhin weiter,
gleichsam als Material für die Phantasie, der mystischen Andacht
einer heiligen Theresa oder der mystischen Metaphysik eines Chândogya
dienen, fortan sind es dem Willen dienstbar gemachte, durch die Gewalt
des Gemütes gehobene und geläuterte Sinne, was der indische Religions-
lehrer auszudrücken sucht, indem er schreibt: »der Wissende ist schon
bei Lebzeiten körperlos«.2) Wogegen, wie gesagt, Loyola’s Methode
geradezu eine Gymnastik der Sinnlichkeit vorschreibt, durch welche,
wie er es selber als Ziel bezeichnet, der Wille und das Urteil geknechtet

1) Zu den interessantesten Zusammenfassungen aus letzterer Zeit gehören
die Aufsätze des Dr. Siegmund Freud: Über die Ätiologie der Hysterie und Die
Sexualität in der Ätiologie der Neurosen,
in den Jahrgängen 1896 und 1898 der
Wiener klinischen Rundschau. Nach meiner Überzeugung bedeutet jeder starke
Anreiz der äusseren Sinnenthätigkeit aus rein innerer Erregung, auch wo er nicht
in sexueller Gestalt auftritt, eine Exacerbation des Sinnenlebens, dessen Sitz im
Gehirn ist, und bedingt eine entsprechende Lähmung.
2) Çankara: Die Sûtra’s des Vedânta, I, 1, 4.
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[524/0547] Die Erben. Wiederholungen wird er immer von Neuem gestärkt), der genau so wirkt wie jede andere Hysterie. Die neuere Medizin fasst diese psycho- pathologischen Zustände unter der Bezeichnung »Zwangsneurose« zu- sammen und weiss recht wohl, dass der Erkrankte nicht seinen Willen, wohl aber (innerhalb des Kreises der Zwangsvorstellungen) die freie Verfügung über seinen Willen gänzlich verliert! Natürlich kann ich hier nicht näher auf diesen höchst verwickelten Gegenstand ein- gehen, der gerade in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts durch die Experimente Charcot’s und Anderer, sowie durch die wissen- schaftliche Psychologie teilweise aufgehellt wurde, so weit wenigstens aufgehellt, dass man das Problem jetzt klar erfasst und die entsetzliche Macht der Physis über die Psyche deutlich erkennt; 1) es genügt, wenn ich die Vernichtung der physischen Grundlage der Freiheit als Loyola’s erstes Ziel nachgewiesen habe. Dieser direkte Angriff auf den Leib des Menschen, nicht etwa, um den Leib dem Geist zu unter- werfen, sondern im Gegenteil, um durch Vermittlung des Leibes den Geist zu ergreifen und zu bemeistern, zeigt eine Gesinnung, die Allem, was wir Indoeuropäer jemals Religion genannt haben, widerspricht. Denn mit Askese hat Loyola’s System nichts gemein; im Gegenteil, er perhorresciert die Askese und verbietet sie, und zwar von seinem Standpunkte aus mit Recht: denn die Askese steigert die intellektuellen Fähigkeiten und gipfelt, wenn mit eiserner Konsequenz durchgeführt, in der vollen Bewältigung der Sinne; diese mögen dann immerhin weiter, gleichsam als Material für die Phantasie, der mystischen Andacht einer heiligen Theresa oder der mystischen Metaphysik eines Chândogya dienen, fortan sind es dem Willen dienstbar gemachte, durch die Gewalt des Gemütes gehobene und geläuterte Sinne, was der indische Religions- lehrer auszudrücken sucht, indem er schreibt: »der Wissende ist schon bei Lebzeiten körperlos«. 2) Wogegen, wie gesagt, Loyola’s Methode geradezu eine Gymnastik der Sinnlichkeit vorschreibt, durch welche, wie er es selber als Ziel bezeichnet, der Wille und das Urteil geknechtet 1) Zu den interessantesten Zusammenfassungen aus letzterer Zeit gehören die Aufsätze des Dr. Siegmund Freud: Über die Ätiologie der Hysterie und Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen, in den Jahrgängen 1896 und 1898 der Wiener klinischen Rundschau. Nach meiner Überzeugung bedeutet jeder starke Anreiz der äusseren Sinnenthätigkeit aus rein innerer Erregung, auch wo er nicht in sexueller Gestalt auftritt, eine Exacerbation des Sinnenlebens, dessen Sitz im Gehirn ist, und bedingt eine entsprechende Lähmung. 2) Çankara: Die Sûtra’s des Vedânta, I, 1, 4.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/547>, abgerufen am 23.11.2024.