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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
wissen, dass hier eine Verschiebung des Begriffes stattgefunden hat, in
Folge deren das, was man heute für besonders charakteristisch "slavisch"
hält -- wie z. B. gedrungene Gestalt, runde Köpfe, hohe Backen-
knochen, dunkles Haar -- gewiss nicht Merkmale des Slaven waren,
als dieser in die europäische Geschichte eintrat. Noch heute übrigens
ist der blonde Typus im Norden und Osten des europäischen Russ-
land vorherrschend, und auch der Pole unterscheidet sich von den
südlichen Slaven durch die Hautfarbe (Virchow). In Bosnien fällt die
ungewöhnliche Grösse der Männer, sowie die Häufigkeit des blonden
Haares auf; den sogenannten slavischen, ins Mongolische hinüber-
spielenden Typus habe ich bei einer mehrmonatlichen Reise quer
durch dieses Land nicht ein einziges Mal angetroffen, ebensowenig
das charakteristische "Kartoffelgesicht" des tschechischen Bauern; das-
selbe gilt von dem herrlichen Stamm der Montenegriner.1) Trotz
des allgemein verbreiteten Vorurteils giebt es also, wie man sieht,
noch jetzt physische Anzeichen genug, dass der Germane, als er in
die Weltgeschichte eintrat, ausser seinem älteren Bruder im Westen,
einen jüngeren, ihm nicht gar so unähnlichen, im Osten hatte. Sehr
verwickelt und schwierig wird jedoch die Entwirrung des ursprünglich
Slavischen durch die offenbare Thatsache, dass dieser Zweig der ger-
manischen Familie sehr früh von anderen Menschenstämmen fast ganz
verzehrt wurde, viel früher und gründlicher und auch rätselhafter als
die Kelten; doch sollte uns das nicht abhalten, die verwandtschaftlichen
Züge zu erkennen und anzuerkennen, sowie auch den Versuch zu
unternehmen, sie aus jener fremden Masse auszuscheiden.

Dazu verhilft hier wiederum vor allem ein Eingreifen in die
Tiefen der Seele. Wenn ich nach der einzigen slavischen Sprache,
von welcher ich eine geringe Kenntnis besitze, der serbischen, urteilen
darf, so möchte ich glauben, dass auch hier eine tiefgewurzelte Familien-
ähnlichkeit mit den Kelten und Germanen in der poetischen Anlage
nachgewiesen werden könnte. Der Heldencyklus, der jetzt an die

1) Dagegen hat die Gestalt des Schädels eine progressive Veränderung
erfahren: bei den heutigen Einwohnern Bosniens findet man nicht ganz 11/2 Prozent
Langköpfe, dagegen 84 Prozent ausgesprochene Rundköpfe, während die ältesten
Gräber 29 Prozent Langköpfe und nur 34 Prozent Rundköpfe zeigen, und Gräber
aus dem Mittelalter noch 21 Prozent Langköpfe aufweisen (siehe Weisbach: Alt-
bosnische Schädel, in den Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien,
1897).
Interessant ist die Bemerkung, dass die Gesichtsbildung, trotz dieser Schädeländerung,
doch "leptoprosop", d. h. länglich geblieben ist.

Die Erben.
wissen, dass hier eine Verschiebung des Begriffes stattgefunden hat, in
Folge deren das, was man heute für besonders charakteristisch »slavisch«
hält — wie z. B. gedrungene Gestalt, runde Köpfe, hohe Backen-
knochen, dunkles Haar — gewiss nicht Merkmale des Slaven waren,
als dieser in die europäische Geschichte eintrat. Noch heute übrigens
ist der blonde Typus im Norden und Osten des europäischen Russ-
land vorherrschend, und auch der Pole unterscheidet sich von den
südlichen Slaven durch die Hautfarbe (Virchow). In Bosnien fällt die
ungewöhnliche Grösse der Männer, sowie die Häufigkeit des blonden
Haares auf; den sogenannten slavischen, ins Mongolische hinüber-
spielenden Typus habe ich bei einer mehrmonatlichen Reise quer
durch dieses Land nicht ein einziges Mal angetroffen, ebensowenig
das charakteristische »Kartoffelgesicht« des tschechischen Bauern; das-
selbe gilt von dem herrlichen Stamm der Montenegriner.1) Trotz
des allgemein verbreiteten Vorurteils giebt es also, wie man sieht,
noch jetzt physische Anzeichen genug, dass der Germane, als er in
die Weltgeschichte eintrat, ausser seinem älteren Bruder im Westen,
einen jüngeren, ihm nicht gar so unähnlichen, im Osten hatte. Sehr
verwickelt und schwierig wird jedoch die Entwirrung des ursprünglich
Slavischen durch die offenbare Thatsache, dass dieser Zweig der ger-
manischen Familie sehr früh von anderen Menschenstämmen fast ganz
verzehrt wurde, viel früher und gründlicher und auch rätselhafter als
die Kelten; doch sollte uns das nicht abhalten, die verwandtschaftlichen
Züge zu erkennen und anzuerkennen, sowie auch den Versuch zu
unternehmen, sie aus jener fremden Masse auszuscheiden.

Dazu verhilft hier wiederum vor allem ein Eingreifen in die
Tiefen der Seele. Wenn ich nach der einzigen slavischen Sprache,
von welcher ich eine geringe Kenntnis besitze, der serbischen, urteilen
darf, so möchte ich glauben, dass auch hier eine tiefgewurzelte Familien-
ähnlichkeit mit den Kelten und Germanen in der poetischen Anlage
nachgewiesen werden könnte. Der Heldencyklus, der jetzt an die

1) Dagegen hat die Gestalt des Schädels eine progressive Veränderung
erfahren: bei den heutigen Einwohnern Bosniens findet man nicht ganz 1½ Prozent
Langköpfe, dagegen 84 Prozent ausgesprochene Rundköpfe, während die ältesten
Gräber 29 Prozent Langköpfe und nur 34 Prozent Rundköpfe zeigen, und Gräber
aus dem Mittelalter noch 21 Prozent Langköpfe aufweisen (siehe Weisbach: Alt-
bosnische Schädel, in den Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien,
1897).
Interessant ist die Bemerkung, dass die Gesichtsbildung, trotz dieser Schädeländerung,
doch »leptoprosop«, d. h. länglich geblieben ist.
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[472/0495] Die Erben. wissen, dass hier eine Verschiebung des Begriffes stattgefunden hat, in Folge deren das, was man heute für besonders charakteristisch »slavisch« hält — wie z. B. gedrungene Gestalt, runde Köpfe, hohe Backen- knochen, dunkles Haar — gewiss nicht Merkmale des Slaven waren, als dieser in die europäische Geschichte eintrat. Noch heute übrigens ist der blonde Typus im Norden und Osten des europäischen Russ- land vorherrschend, und auch der Pole unterscheidet sich von den südlichen Slaven durch die Hautfarbe (Virchow). In Bosnien fällt die ungewöhnliche Grösse der Männer, sowie die Häufigkeit des blonden Haares auf; den sogenannten slavischen, ins Mongolische hinüber- spielenden Typus habe ich bei einer mehrmonatlichen Reise quer durch dieses Land nicht ein einziges Mal angetroffen, ebensowenig das charakteristische »Kartoffelgesicht« des tschechischen Bauern; das- selbe gilt von dem herrlichen Stamm der Montenegriner. 1) Trotz des allgemein verbreiteten Vorurteils giebt es also, wie man sieht, noch jetzt physische Anzeichen genug, dass der Germane, als er in die Weltgeschichte eintrat, ausser seinem älteren Bruder im Westen, einen jüngeren, ihm nicht gar so unähnlichen, im Osten hatte. Sehr verwickelt und schwierig wird jedoch die Entwirrung des ursprünglich Slavischen durch die offenbare Thatsache, dass dieser Zweig der ger- manischen Familie sehr früh von anderen Menschenstämmen fast ganz verzehrt wurde, viel früher und gründlicher und auch rätselhafter als die Kelten; doch sollte uns das nicht abhalten, die verwandtschaftlichen Züge zu erkennen und anzuerkennen, sowie auch den Versuch zu unternehmen, sie aus jener fremden Masse auszuscheiden. Dazu verhilft hier wiederum vor allem ein Eingreifen in die Tiefen der Seele. Wenn ich nach der einzigen slavischen Sprache, von welcher ich eine geringe Kenntnis besitze, der serbischen, urteilen darf, so möchte ich glauben, dass auch hier eine tiefgewurzelte Familien- ähnlichkeit mit den Kelten und Germanen in der poetischen Anlage nachgewiesen werden könnte. Der Heldencyklus, der jetzt an die 1) Dagegen hat die Gestalt des Schädels eine progressive Veränderung erfahren: bei den heutigen Einwohnern Bosniens findet man nicht ganz 1½ Prozent Langköpfe, dagegen 84 Prozent ausgesprochene Rundköpfe, während die ältesten Gräber 29 Prozent Langköpfe und nur 34 Prozent Rundköpfe zeigen, und Gräber aus dem Mittelalter noch 21 Prozent Langköpfe aufweisen (siehe Weisbach: Alt- bosnische Schädel, in den Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien, 1897). Interessant ist die Bemerkung, dass die Gesichtsbildung, trotz dieser Schädeländerung, doch »leptoprosop«, d. h. länglich geblieben ist.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/495>, abgerufen am 14.09.2024.